Beschwerdeführerin begehrte Vollstreckungsschutz und machte Suizidgefahr geltend
Die 53jährige alleinstehende Beschwerdeführerin beantragte im Rahmen des Zwangsversteigerungsverfahrens ihres Hausgrundstückes Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO. Die Fortführung des Versteigerungsverfahrens gefährde ihre Gesundheit und ihr Leben akut. Der mit dem Zuschlag verbundene Verlust ihres Hausgrundstücks werde eine unkontrollierbare psychische Überbelastung verursachen und lebensbeendende Suizidhandlungen sehr wahrscheinlich machen. Zum Beweis ihres Vortrags bot die Beschwerdeführerin die Einholung eines Sachverständigengutachtens an.
AG wies Antrag zurück und erteilte Versteigerungszuschlag
Das Amtsgericht führte den bereits angesetzten Versteigerungstermin durch. In einem gesonderten Verkündungstermin wies es den Vollstreckungsschutzantrag zurück und erteilte dem Meistbietenden den Zuschlag. Die Suizidgefahr sei nicht ausreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht worden. Zudem fehle es an Vortrag, wie die Beschwerdeführerin selbst zur Verbesserung ihres Gesundheitszustands beitrage.
LG stellte Zwangsvollstreckung aus Zuschlagsbeschluss einstweilen ein
Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin stellte das Landgericht Dessau-Roßlau die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss einstweilen ein und ordnete die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Verlust des Hauses bei dem aktuellen psychischen Zustand der Beschwerdeführerin geeignet sei, eine lebensbeendende Handlung sehr wahrscheinlich zu machen.
LG: Suizidgefahr kann durch zeitweilige Unterbringung abgewendet werden
Schließlich wies das LG die sofortigen Beschwerden gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts sowie die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin zurück. Die Interessenabwägung falle zugunsten der Gläubigerin aus, da der Suizidgefahr wirksam durch die vorübergehende Unterbringung der Beschwerdeführerin begegnet werden könne. Mit ihrer anschließend eingelegten Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin, dass die Versagung von Vollstreckungsschutz sie insbesondere in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletze.
BVerfG: Zwangsvollstreckung kann bei Lebensgefahr für Schuldner unverhältnismäßig sein
Das BVerfG hat den Beschluss des LG, mit dem es die sofortigen Beschwerden gegen die AG-Beschlüsse zurückgewiesen hat, aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung dorthin zurückverwiesen. Der LG-Beschluss verstoße gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das BVerfG erläutert, dass dieses Grundrecht die Vollstreckungsgerichte verpflichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände könne in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen sei. Ergebe die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wögen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen solle, so könne der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.
Vollstreckungsgerichte müssen Schutz des Lebens sicherstellen
Die Vollstreckungsgerichte müssten in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan werde, so das BVerfG weiter. Dies könne es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners, ihm drohten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen werde. Ein Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Betreuungsgerichte könne allenfalls dann verfassungsrechtlich tragfähig sein, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Betroffenen getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint hätten. Liege eine solche Situation nicht vor und gelange das Vollstreckungsgericht zu dem Schluss, dass eine zeitweilige Unterbringung des Betroffenen vor Erteilung des Zuschlags zum Schutz seines Lebens geboten sei und andere Schutzmaßnahmen – wie etwa eine einstweilige Einstellung der Zwangsversteigerung, gegebenenfalls gegen Auflagen – nicht in Betracht kämen, müsse es sicherstellen, dass die zuständigen öffentlichen Stellen rechtzeitig tätig werden.
Interessenabwägung des LG unzureichend
In Anwendung dieser Maßstäbe kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass der LG-Beschluss mit dem Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht zu vereinbaren ist. Zwar habe das LG dieses Grundrecht bei seiner Entscheidung berücksichtigt und eine Abwägung mit dem Vollstreckungsinteresse der Gläubigerinnen vorgenommen, diese genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch nicht. Das LG habe – entgegen eigener Überzeugung – die vom Gutachten angenommene Suizidgefahr der Beschwerdeführerin unterstellt. Eine vorübergehende Einstellung lehne es dennoch mit der Begründung ab, dass der Gefahr der Selbsttötung durch die von der Sachverständigen aufgezeigte Möglichkeit der Herausnahme der Beschwerdeführerin aus ihrem häuslichen Umfeld und eine vorübergehende Unterbringung während der Dauer des Zwangsversteigerungsverfahrens gegen ihren Willen begegnet werden könne.
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet: LG hätte einstweilige Einstellung unter Auflagen erwägen müssen
Laut BVerfG missachtet das LG hierbei jedoch zum einen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da es verkenne, dass die Sachverständige die (unfreiwillige) Unterbringung erst als zweiten Schritt nach einer tagesklinischen oder stationären Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer psychiatrischen Abteilung eines Allgemeinkrankenhauses empfehle. Für eine stationäre Behandlung gegen den Willen der Beschwerdeführerin spreche sich die Sachverständige hingegen erst für den Fall aus, dass es der Beschwerdeführerin nicht möglich sein sollte, entsprechende Fortschritte innerhalb von sechs Monaten zu machen. Die angegriffene Entscheidung enthalte keine Ausführungen dazu, warum eine einstweilige Einstellung unter der Erteilung von Auflagen im Hinblick auf die von der Sachverständigen angeführten Therapiemöglichkeiten nicht in Betracht komme, zumal die Sachverständige diese offenbar für erfolgversprechend halte.
LG hätte rechtzeitige Unterbringung vor Zuschlagserteilung sicherstellen müssen
Zum anderen moniert das BVerfG, dass der angegriffene Beschluss nicht erkennen lasse, dass das LG geeignete – der Suizidgefahr effektiv entgegenwirkende – Vorkehrungen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt habe. Allein der Verweis auf die Möglichkeit der Unterbringung genüge nicht. Vielmehr habe das Vollstreckungsgericht sicherzustellen, dass die für eine Unterbringung nach polizeirechtlichen oder betreuungsrechtlichen Vorschriften zuständigen Stellen Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen haben.
LG durfte Suizidgefahr nicht ohne Darlegung entsprechender Sachkunde bezweifeln
Soweit das LG die Einschätzung der Sachverständigen hinsichtlich der für den Fall des Hausverlustes bestehenden Suizidgefahr in Frage stelle, habe es nicht ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen der von ihm gerade wegen fehlender medizinischer Sachkunde beauftragten Gutachterin abweichen dürfen, beanstandet das BVerfG weiter. Der Beschluss erweise sich deshalb auch nicht wegen einer weiteren, möglicherweise selbstständig tragenden Begründung als verfassungsgemäß.