BVerfG: Studienplatzvergabe im Fach Humanmedizin teilweise verfassungswidrig

Die Studienplatzvergabe im zulassungsbeschränkten Studiengang Humanmedizin an staatlichen Hochschulen ist teilweise nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 19.12.2017 entschieden. Bis Ende 2019 müsse das Zulassungsverfahren nun verfassungskonform gestaltet werden (Az.: 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14).

Ablauf der Studienplatzvergabe im Fach Humanmedizin

Im zulassungsbeschränkten Studiengang Humanmedizin werden die Studienplätze nach Abzug einer Vorabquote über drei Quoten vergeben: 20% der Plätze werden an die Abiturbesten vergeben, 20% nach der Wartezeit und 60% in einem eigenständigen Auswahlverfahren der Hochschulen, zum Teil mit einer Vorauswahl. Wegen des drastischen Anstiegs der Zahl von Studienplatzbewerbern für Humanmedizin bei kaum gestiegener Zahl der verfügbaren Studienplätze hat sich das Kapazitätsproblem zunehmend verschärft. Während zum Wintersemester 1994/95 noch 7.366 Studienplätze für 15.753 Bewerber verfügbar waren, gab es etwa zum Wintersemester 2014/15 nur 9.001 Studienplätze für 42.999 Bewerber. Die Dauer der Wartezeit für einen Studienplatz in der Wartezeitquote beträgt mittlerweile 15 Semester.

VG bezweifelt Verfassungskonformität der Studienplatzvergabe

Zwei Bewerber um einen Medizin-Studienplatz haben vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage erhoben, weil sie nicht zugelassen wurden. Das VG Gelsenkirchen hatte Zweifel, ob die für die Studienplatzvergabe im Fach Humanmedizin im Hochschulrahmengesetz (HRG) und in den Vorschriften der Länder zur Ratifizierung und Umsetzung des Staatsvertrages über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vorgesehenen Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es rief daher das BVerfG im konkreten Normenkontrollverfahren an.

BVerfG: Abstellen auf Abiturnote in Abiturbestenquote nicht zu beanstanden

Das BVerfG hat die bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften zur Studienplatzvergabe im Fach Humanmedizin für teilweise unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt. Sie verletzten zum Teil den grundrechtlichen Anspruch der Studienplatzbewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot. Außerdem genügten die landesgesetzlichen Bestimmungen zum Auswahlverfahren der Hochschulen teilweise nicht dem Vorbehalt des Gesetzes. So beanstandet das BVerfG die Studienplatzvergabe in der Abiturbestenquote. Die Regeln über die Vergabe von Studienplätzen müssten sich grundsätzlich am Kriterium der Eignung orientieren. Insoweit sei das Abstellen auf die Abiturnote zwar nicht zu beanstanden, insbesondere auch nicht wegen föderaler Unterschiede der Schulausbildung und Benotung. Denn der Gesetzgeber habe diesbezüglich durch die Bildung von Landesquoten einen Ausgleich geschaffen.

Vorrangigkeit und Begrenzung der Ortswünsche in Abiturbestenquote verfassungswidrig

Für verfassungswidrig erachtet das BVerfG aber die vorrangige Berücksichtigung von obligatorisch anzugebenden Ortswünschen im Rahmen der Abiturbestenquote. Denn das Kriterium der Abiturdurchschnittsnote werde als Maßstab für die Eignung durch den Rang des Ortswunsches überlagert und entwertet. Die Chancen der Abiturienten auf einen Studienplatz hingen danach in erster Linie davon ab, welchen Ortswunsch sie angegeben haben und nur in zweiter Linie von ihrer Eignung für das Studium. Dies sei im Rahmen einer zentralen Vergabe von Studienplätzen nach dem Kriterium der Abiturdurchschnittsnote verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Bezüglich eines Studienfachs, das über den Zugang zu einem breiten Berufsfeld entscheide, müsse die Frage, ob überhaupt ein Studienplatz vergeben wird, der Ortspräferenz vorgehen. Ortswunschangaben dürften aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nur als Sekundärkriterium für die Verteilung der vorhandenen Studienplätze unter den ausgewählten Bewerbern herangezogen werden. Entsprechend sei auch die Begrenzung des Zulassungsantrags auf sechs Studienorte in der Abiturbestenquote verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Diese lasse sich insbesondere nicht mit verfahrensökonomischen Notwendigkeiten begründen.

Auswahlverfahren: Kein eigenes Kriterienerfindungsrecht der Hochschulen

Weiter rügt das BVerfG die Auswahlverfahren an den Hochschulen zur Studienplatzvergabe. Die gesetzlichen Regelungen verstießen zum Teil gegen den Gesetzesvorbehalt. Bei der Vergabe von Studienplätzen handle es sich um eine wesentliche Regelungsmaterie, die den Kern des Zulassungswesens ausmache und damit dem Parlamentsvorbehalt unterliege. Insofern müsse der Gesetzgeber die Auswahlkriterien ihrer Art nach selbst festlegen. Allerdings dürfe er den Universitäten gewisse Spielräume für die Konkretisierung der gesetzlich festgelegten Kriterien lassen, anhand derer die Eignung von Studienbewerbern beurteilt werden soll. Mit dem Gesetzesvorbehalt nicht vereinbar sei jedoch, dass die Hochschulen nach bayerischem und hamburgischem Landesrecht eigenständig weitere Auswahlkriterien festlegen können, die sich nicht im gesetzlichen Kriterienkatalog finden. Ein eigenes Kriterienerfindungsrecht der Hochschulen sei verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig.

Standardisierung und Strukturierung hochschuleigener Eignungsprüfungen muss gesetzlich gesichert sein

Einen Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt moniert das BVerfG auch insoweit, als es an gesetzlichen Sicherungen dafür fehle, dass die Hochschulen Eignungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren durchführen. Der Gesetzgeber müsse auch festlegen, dass in den hochschuleigenen Studierfähigkeitstests und Auswahlgesprächen nur die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber geprüft wird. Die den Hochschulen eingeräumte Konkretisierungsbefugnis dürfe sich ausschließlich auf die fachliche Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung unter Einbeziehung auch hochschulspezifischer Profilbildungen beziehen. Diesen Anforderungen würden die vorgelegten Vorschriften nicht uneingeschränkt gerecht. An den erforderlichen gesetzlichen Maßgaben zur Standardisierung und Strukturierung von Eignungsprüfungsverfahren und Auswahlkriterien fehle es sowohl auf der Ebene des Hochschulrahmengesetzes als auch in den Landesgesetzen.

Uneingeschränkter Rückgriff auf Ortspräferenzkriterium bei Vorauswahl unzulässig

Die Möglichkeit eines Vorauswahlverfahrens zur Begrenzung der Bewerberzahl ist laut BVerfG zwar nicht zu beanstanden. Verfassungswidrig sei jedoch, dass die Hochschulen bei der Vorauswahl uneingeschränkt auf das Kriterium eines von ihnen frei zu bestimmenden Ranges der Ortspräferenz zurückgreifen dürfen. Dabei handle es sich um ein Kriterium, das nicht an die Eignung für Studium und Beruf anknüpfe und dessen Verwendung sich erheblich chancenverringernd auswirken könne.

Ortspräferenzkriterium nur bei individualisiertem Auswahlverfahren gerechtfertigt

Gerechtfertigt sei das Kriterium des Grades der Ortspräferenz nur dann, wenn es für Studienplätze herangezogen wird, die tatsächlich im Rahmen eines aufwendigen individualisierten Auswahlverfahrens vergeben werden. Denn die Durchführung solcher Auswahlverfahren dürfe der Gesetzgeber als einen wichtigen Bestandteil im Gesamtsystem der Studienplatzvergabe ansehen. Das könne aber nur gelingen, wenn dieser Aufwand auf solche Personen beschränkt wird, bei denen die Wahrscheinlichkeit hinreichend hoch ist, dass sie den Studienplatz auch annehmen. Daher rechtfertige das Ziel der Ermöglichung komplexer, eignungsorientierter Auswahlverfahren für diese Fälle, das Ortspräferenzkriterium trotz seines fehlenden Eignungsbezugs ausnahmsweise bei der Vorauswahl anzuwenden.

Anwendung des Ortspräferenzkriteriums hinreichend zu begrenzen

Dies gelte jedoch nur, wenn anschließend auch entsprechend aufwendige Auswahlverfahren durchgeführt werden, wie es vor allem bei den im Kriterienkatalog vorgesehenen qualifizierten Gesprächen der Fall sein kann, so das BVerfG weiter. Für Fallgestaltungen ohne aufwendig gestaltete Auswahlprozeduren sei das Vorauswahlkriterium des Grades der Ortspräferenz nicht sachgerecht und unangemessen. Verfassungsrechtlich geboten sei außerdem, dass nur ein hinreichend begrenzter Anteil der Studienplätze jeder Universität von einem hohen Grad der Ortspräferenz abhängt. Es sei daher auszuschließen, dass die Universitäten das Ortspräferenzkriterium für alle in ihrem Auswahlverfahren zu vergebenden Studienplätze anwenden.

Fehlender Ausgleichsmechanismus für mangelnde länderübergreifende Notenvergleichbarkeit verfassungswidrig

Verfassungswidrig ist laut BVerfG auch, dass im (Vor-)Auswahlverfahren die Abiturnote berücksichtigt werden können, aber anders als bei der Studienplatzvergabe in der Abiturbestenquote Mechanismen zum Ausgleich der mangelnden länderübergreifenden Vergleichbarkeit der Abiturnoten fehlen. Dies führe zu einer gewichtigen Ungleichbehandlung. Es werde in Kauf genommen, dass eine große Zahl von Bewerbern erhebliche Nachteile erleidet, je nach dem, in welchem Land sie ihr Abitur erworben hätten. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass es auch im Auswahlverfahren der Hochschulen maßgeblich auf Grenzbereiche der Benotung ankommt und die Dezimalstellen der Durchschnittsnoten häufig über den Erfolg einer Bewerbung entscheiden. Für diese Ungleichbehandlung fehle es an einem einleuchtenden, belastbaren Sachgrund.

Transparente Regeln für Konkretisierung des Kriteriums fachnaher Berufsausbildungen/-tätigkeiten erforderlich

Weiter führt das BVerfG aus, dass die im HRG und im Staatsvertrag 2008 bestimmten Kriterien, die von den Hochschulen für die Auswahl der Bewerber herangezogen werden könnten, je für sich als Indikatoren für eine an Eignung orientierte Auswahl nicht zu beanstanden seien. Jedoch müsse mit Blick auf die Studierfähigkeitstests und von den Hochschulen durchzuführende qualifizierte Gespräche sichergestellt werden, dass sie hinreichend strukturiert sind, auf die Ermittlung der Eignung zielen und einer diskriminierenden Anwendung vorgebeugt wird. Entsprechendes gelte für das Kriterium der Berücksichtigung fachnaher Berufsausbildungen oder -tätigkeiten. Auch hiermit ließen sich Anhaltspunkte für die Eignung zum Studium der Humanmedizin erfassen. Angesichts seiner Offenheit müsse die Konkretisierung dieses Kriteriums jedoch in transparente Regeln eingebunden werden, woran es fehle.

Berücksichtigung eines notenunabhängigen Kriteriums im Auswahlverfahren muss gewährleistet werden

Für verfassungswidrig erachtet das BVerfG schließlich auch, dass der Gesetzgeber für die Auswahl der Bewerber im Auswahlverfahren der Hochschulen keine hinreichend breit angelegten Eignungskriterien vorgebe. Die Öffnung des Auswahlverfahrens für eine Einbeziehung weiterer Kriterien liege nicht allein in der freien Entscheidung des Gesetzgebers, sondern sei zur Gewährleistung einer gleichheitsgerechten Zulassung zum Studium in gewissem Umfang auch verfassungsrechtlich geboten. Soweit der Gesetzgeber - wie nach derzeitiger Regelung - für die Berücksichtigung anderer Eignungskriterien als der Abiturnote allein das Auswahlverfahren der Hochschulen vorsehe, richteten sich entsprechende Anforderungen an dessen Ausgestaltung. Geboten sei insoweit, dass der Gesetzgeber die Hochschulen dazu verpflichtet, die Studienplätze nicht allein und auch nicht ganz überwiegend nach dem Kriterium der Abiturnoten zu vergeben, sondern zumindest ergänzend ein nicht schulnotenbasiertes, anderes eignungsrelevantes Kriterium einzubeziehen. Diesen Anforderungen genüge die derzeitige Rechtslage nicht.

Dauer der Wartezeit muss begrenzt werden

Die Bildung einer Wartezeitquote sei verfassungsrechtlich zulässig, aber nicht geboten. Der Gesetzgeber dürfe sie aber über den derzeitigen Anteil von 20% der Studienplätze hinaus nicht erhöhen. Verfassungswidrig sei allerdings, dass der Gesetzgeber die Wartezeit in ihrer Dauer nicht angemessen begrenzt habe. Denn ein zu langes Warten beeinträchtige erheblich die Erfolgschancen im Studium und damit die Möglichkeit zur Verwirklichung der Berufswahl. Sehe der Gesetzgeber demnach zu einem kleineren Teil auch eine Studierendenauswahl nach Wartezeit vor, müsse er die Wartedauer auf ein angemessenes Maß begrenzen. Dies gelte ungeachtet dessen, dass die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Wartedauer dazu führen kann, dass viele Bewerber am Ende keinen Studienplatz über die Wartezeitquote erhalten können. Ferner sei für die Wartezeitquote - ebenso wie für die Abiturbestenquote - eine verfahrensökonomische Notwendigkeit, die eine zahlenmäßige Beschränkung der Ortswahlangaben erfordern könnte, nicht erkennbar. Auch hier habe der Gesetzgeber zudem dem Grad der Ortspräferenz eine zu große Bedeutung beigemessen.

BVerfG, Urteil vom 19.12.2017 - 1 BvL 3/14

Redaktion beck-aktuell, 19. Dezember 2017.