Richterwahl abgesagt: Droht eine "Supreme-Court-isierung" des BVerfG?
© dpa | Kay Nietfeld

Die Wahl der Professorin Frauke Brosius-Gersdorf nach Karlsruhe ist am Freitag kurzfristig von der Tagesordnung genommen worden. Nach Zwist über ihre Position zum Abtreibungsrecht wurde kurz vor der Abstimmung auch ein Plagiatsvorwurf publik. Was heißt das für das Gericht?

Frauke Brosius-Gersdorf wird vermutlich nicht Richterin am BVerfG werden. Ganz sicher nicht in dieser Woche, aber vermutlich auch in Zukunft nicht. Zu beschädigt ist die Rechtsprofessorin durch die mitunter scharf geführte Diskussion um ihre Person und ihre fachliche Expertise.

In der Sitzung des Bundestags am Freitag sollten eigentlich drei Richterstellen in Karlsruhe nachbesetzt werden, nun ist es erst einmal gar keine geworden. Weder über Brosius-Gersdorf noch über den von der Union vorgeschlagenen Richter am BAG Günter Spinner oder die Münchner Professorin Ann-Katrin Kaufhold, die ebenfalls von der SPD vorgeschlagen worden war, wurde schließlich abgestimmt. Union, SPD, Grüne und Linke nahmen die vorgesehenen Wahlen von der Tagesordnung, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass eine relevante Zahl von Unionsabgeordneten – einige sprechen von mittlerweile über 50 Parlamentarierinnen und Parlamentariern – nicht für Brosius-Gersdorf stimmen würde. Dabei hatte sich Bundeskanzler und Unionschef Friedrich Merz noch in dieser Woche im Bundestag klar zu ihr bekannt und auch im Richterwahlausschuss hatte die Union ihrer Nominierung zugestimmt.

Wiese kritisert "Hetzkampagne" gegen Brosius-Gersdorf

Nun kann man Wahlen ansetzen, absagen, verschieben – doch der Schaden der Vorgänge an diesem Freitag geht wohl über vermutlich nur noch kurzzeitig vakante BVerfG-Posten hinaus. Es sei "kein guter Tag für die Demokratie in unserem Land", sagte Dirk Wiese am Freitag in der Bundestagsdebatte zur Änderung der ursprünglich vorgesehenen Tagesordnung. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion kritisierte eine "Hetzkampagne", die aus rechten Kreisen gegen Brosius-Gersdorf geführt worden sei. Die Staatsrechtlerin habe Morddrohungen erhalten. "Das muss uns besorgen um den Zustand der Demokratie in diesem Land", so Wiese. Wie zur Bestätigung warf der Abgeordnete der AfD Gottfried Curio das Word "Linksextremistin" in Wieses Redebeitrag ein, was ihm einen Ordnungsruf einbrachte.

Sichtlich bedrückt äußerte sich Steffen Bilger, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der die Bedeutung der Wahlen ans BVerfG betonte, die "herausfordernd" geworden seien. "Zu einem der Vorschläge hat sich eine intensive öffentliche Debatte entwickelt, die jedes Maß verloren hat" schloss er sich Wiese an. Doch Verfassungsrichterinnen und -richter müssten über jeden fachlichen Zweifel erhaben sein, was bei Brosius-Gersdorf "nicht mehr vollständig gegeben" sei. Man sei bereit gewesen, über die beiden anderen Vorschläge noch am Freitag abzustimmen, doch darauf habe man sich mit den anderen Fraktionen nicht mehr verständigen können.

Haßelmann: "Vorwürfe sind erbärmlich"

Bilger bezog sich damit auf Plagiats-Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf, die erst kurz vor der Sitzung am Donnerstagabend öffentlich geworden waren. Demnach will der als "Plagiatsjäger" bekannte österreichische Kommunikationswissenschaftler und Publizist Stefan Weber Hinweise auf wissenschaftliches Fehlverhalten in der Doktorarbeit der Potsdamer Verfassungsrechtlerin ausgemacht haben. Dabei geht es laut Weber um ähnliche Passagen in der Dissertation von Brosius-Gersdorf und der Habilitationsschrift ihres Ehemannes, des Leipziger Staatsrechtlers Hubertus Gersdorf.

Die Co-Geschäftsführerin der Grünen-Faktion, Britta Haßelmann, kritisierte, hier werde die Karriere einer Frau gefährdet, aus der Unionsfraktion habe man dazu auf "rechte News-Portale" Einfluss genommen. "Es ist unverantwortlich, was hier getrieben wird", zeigte sich Haßelmann empört. Ihre Linken-Kollegin Heidi Reichinnek stieß ins gleiche Horn. Sie warf der Unionsfraktion vor, "rechte Narrative" übernommen zu haben, auch in Bezug auf die liberale Position Brosius-Gersdorfs zum Schwangerschaftsabbruch, die schließlich von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt werde: "Die Vorwürfe sind erbärmlich." Bernd Baumann von der AfD warf hingegen der Regierung vor, Brosius-Gersdorf sei als Richterin "unmöglich", der Vorschlag habe das Ansehen des BVerfG zerstört, was die AfD aufgedeckt habe.

Brosius-Gersdorf war gleich nach ihrem Vorschlag durch die SPD-Fraktion von konservativer Seite für einige Positionen kritisiert worden, die sie in der Vergangenheit öffentlich vertreten hatte. Dabei ging es unter anderem um ihre positive Haltung zu einer Impfpflicht während der Corona-Pandemie, aber auch um ihre aus Sicht mancher Abgeordneter zu liberale Haltung zu Abtreibungen. Die Juristin war Mitglied in der von der Ampel-Regierung eingesetzten Expertenkommission, die sich für eine Legalisierung von Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen ausgesprochen hatte. Gleichwohl hatten Kanzler Merz und Unions-Fraktionschef Jens Spahn die Nominierung vorangetrieben und Rückendeckung für Brosius-Gersdorf signalisiert. Am Donnerstagabend tauchten dann die Plagiatsvorwürfe durch Weber auf.

Spahn, dessen eigene Leute in der Folge die Abstimmung über das im Richterwahlausschuss bereits geeinte Stellen-Paket für Karlsruhe hatten platzen lassen, musste sich in der Bundestags-Debatte dementsprechend viel anhören. Haßelmann warf Spahn, der die Anwürfe stoisch ertrug, vor, Parlament, Demokratie und Gericht in eine "unverantwortliche Situation" gebracht zu haben. "Ein solches Desaster hat es in der Geschichte der Wahlen zum Bundesverfassungsgericht in diesem hohen Haus noch nicht gegeben." Das BVerfG und die Kandidatinnen und Kandidaten nähmen erheblichen Schaden, den Spahn mit seiner "Unfähigkeit als Fraktionsvorsitzender" zu verantworten habe.

"Plagiatsjäger" relativiert Vorwurf

Eine bittere Pointe an diesem turbulenten Tag war, dass der "Plagiatsjäger" Weber selbst den Vorwurf aus der Union auf X am Freitag relativierte. "Die Doktorarbeit und die Habil-Schrift wurden fast zeitgleich 1997 fertiggestellt", schrieb Weber in dem sozialen Netzwerk. Doch die Ähnlichkeiten bedeuten nach seinen Ausführungen gar nicht zwingend ein Plagiat durch die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Stattdessen gebe es drei Möglichkeiten: Die eine sei, dass Brosius-Gersdorf von ihrem Mann abgeschrieben habe, das sei aber auch umgekehrt möglich und möglicherweise sogar ohne, dass der oder die andere davon gewusst habe. Schließlich könnten die beiden auch zusammengearbeitet haben, was man dann aber im Vorwort hätte deklarieren müssen, so Weber.

Die Universität Hamburg erklärte unterdessen am Freitag, sie sehe aktuell keinen Anlass, die Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf zu überprüfen. Die Hochschule erklärte, erste Anlaufstelle für Hinweise auf mögliches wissenschaftliches Fehlverhalten sei die Ombudsstelle der Hochschule, oberstes Gebot dabei sei Vertraulichkeit. Die Ombudsstelle werde tätig, wenn hinreichend belegte Hinweise auf einen möglichen Verstoß gegen die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis an sie herantragen würden. Eine Veröffentlichung von Hinweisen auf einer externen Website genüge dafür nicht.

Die Ereignisse im Bundestag zogen auch Reaktionen aus der Fachwelt nach sich. So äußerten sich der Deutsche Juristinnenbund und die Neue Richter*innenvereinigung am Freitag gemeinsam mit dem Deutschen Frauenrat in einer Pressemitteilung. "Die am Vorabend der Wahl lancierte und erst heute Vormittag bekannt gewordene Kampagne gegen Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf beschädigt demokratische Abläufe schwer" heißt es darin. "Die unterzeichnenden Verbände warnen davor, auf Grundlage von nichtbewiesenen Vorwürfen von der bisherigen Einigung abzuweichen."

Wird das BVerfG politischer?

Dass tatsächlich etwaige Zweifel an der wissenschaftlichen Integrität Brosius-Gersdorfs die Ursache für die Eskalation am Freitag waren, glauben im Bundestag außerhalb der Unionsfraktion offenbar ohnehin nur wenige. Er habe "nicht gedacht, dass wir Debatten erleben, wie sie in den USA um den Supreme Court oder durch die PiS in Polen geführt werden", erklärte der Sozialdemokrat Wiese. Damit bezog er sich auf die politisch aufgeladenen Debatten um die Besetzung der dortigen Verfassungsgerichte, die mitunter eher als politisches Machtinstrument denn als neutrale dritte Gewalt wahrgenommen werden – und legte damit den Finger in die Wunde.

Während das BVerfG jahrzehntelang eher im Stillen seiner Arbeit nachging und in Umfragen höchstes Vertrauen genoss, schaute man in der hiesigen Rechtswissenschaft immer etwas befremdet über den großen Teich. In den USA gibt es seit jeher Kulturkämpfe um die Besetzung des US Supreme Court, die dortigen Richterinnen und Richter sind dadurch zu Personen des öffentlichen Lebens geworden. Nun, so die Befürchtung, könnte – wie diverse andere Entwicklungen, die früher schon mit Verzögerung aus den USA herüberschwappten – auch hier die Verfassungsgerichtsbarkeit politischer werden.

Dass solche Tendenzen auf das BVerfG zukommen könnten, hat sich in der Vergangenheit zumindest angedeutet und ist auch politisch befördert worden. So scheiterte schon die erste geplante Nominierung durch die CDU/CSU für die Nachfolge des scheidenden Josef Christ am BVerfG am Veto der Grünen, die den Richter am BVerwG Robert Seegmüller in migrationsrechtlichen Fragen für zu konservativ befanden. Schon damals deutete sich an, dass die stärker fragmentierten Mehrheitsverhältnisse im Bundestag die Wahlen künftig schwieriger machen dürften. Dass diese seit 2015 nicht mehr – wie früher – einzig im Richterwahlausschuss weitgehend unbeachtet stattfinden, sondern mit maximaler Öffentlichkeitswirksamkeit im Plenum, dürfte ebenfalls dazu beitragen. Dabei hatte das BVerfG selbst 2012 die Übertragung der Richterwahl auf den Wahlausschuss in einer Entscheidung für gerechtfertigt befunden, da so die für das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Gerichts unabdingbare Vertraulichkeit des Wahlverfahrens gewährleistet werde (BVerfGE 131, 230 (235 f.).

Wie es nun mit der Nachbesetzung der Richterstellen weitergeht, ist noch unklar. Die nächste reguläre Sitzungswoche des Bundestags, der nun in seine Sommerpause geht, ist erst im September. Dabei drängt die Zeit, denn die Amtszeit von Josef Christ, dessen Nachfolge eigentlich Günter Spinner antreten soll, ist bereits seit Monaten abgelaufen. In dieser Zeit bleibt Christ zwar im Amt, doch eine Nachbesetzung drängt, weshalb zuletzt das BVerfG selbst Spinner vorgeschlagen hatte. Die Grünen-Fraktion forderte am Freitag unterdessen, noch in der kommenden Woche eine Sondersitzung einzuberufen.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 11. Juli 2025 (ergänzt durch Material der dpa).

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