Arbeitslosengeld II wegen bloßer Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche abgelehnt
Im Ausgangsverfahren zu 1 BvL 4/16 klagt eine Familie auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.11.2015. Sie sind usbekische Staatsangehörige und leben seit mehreren Jahren in Deutschland. Der Vater hat erfolgreich ein Studium abgeschlossen, mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 1 AufenthG, und war neben und nach dem Studium erwerbstätig. Danach hatte er eine bis Mai 2017 befristete Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche nach dem Studium, die ihm auch eine Erwerbstätigkeit gestattete. Die Mutter hatte eine befristete Aufenthaltserlaubnis wegen Ehegattennachzugs. Die gemeinsame Tochter besitzt eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund ihrer Geburt im Bundesgebiet. Die Familie erhob Klage, weil das Jobcenter die beantragten Leistungen mit Verweis auf den Aufenthaltstitel abgelehnt hatte.
Arbeitslosengeld II wegen schulischer Ausbildung verweigert
Die Klägerin im Ausgangsverfahren zu 1 BvL 6/16 macht einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II geltend. Sie ist iranische Staatsangehörige, hat eine unbefristete Niederlassungserlaubnis, und lebt mit ihrem Ehemann, ebenfalls Iraner mit Niederlassungserlaubnis, in einer gemeinsamen Mietwohnung. In der Vergangenheit bezogen sie teilweise ergänzend zum Erwerbseinkommen auch Arbeitslosengeld II. Die Klägerin erhielt einen nicht vergüteten Ausbildungsplatz zur Medizinisch-technischen Radiologieassistentin und beantragte weiter Arbeitslosengeld II. Ihr Antrag auf Berufsausbildungsbeihilfe wurde abgelehnt, da eine schulische Ausbildung nach § 57 Abs. 1 SGB III nicht förderungsfähig sei. Der Antrag auf Arbeitslosengeld II wurde nach § 7 Abs. 5 und 6 SGB II abgelehnt, weil ihre Ausbildung dem Grunde nach förderungsfähig sei. Der Antrag auf Ausbildungsförderung wurde abgelehnt, da sie bei Beginn bereits das 30. Lebensjahr vollendet hatte. Darauf sah sie sich gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen, und erhob Klage zum Sozialgericht.
SG: Leistungsausschluss mit Grundrecht auf menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?
Das SG setzte die Verfahren aus und rief das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG an, um klären zu lassen, ob die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Abs. 5 SGB II mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist.
BVerfG: Hilfsbedürftigkeit ungeklärt gelassen
Das BVerfG hat die Vorlagen für unzulässig erachtet. Sie genügten nicht den Begründungsanforderungen aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Das SG habe im Verfahren 1 BvL 4/16 zwar seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Leistungsausschlüsse dargelegt und Literatur und Rechtsprechung berücksichtigt. Doch übergehe die Vorlage mehrere Fragen zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen, die für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar seien und ohne deren Klärung das BVerfG nicht entscheiden könne. Es sei dargelegt worden, dass die Eltern erwerbsfähig sind, da beide aufenthaltsrechtlich eine Beschäftigung aufnehmen durften. Ungeklärt sei jedoch, wie sich der Umstand auswirke, dass die Aufenthaltserlaubnis erst kurz vor Antragstellung verlängert worden sei und dafür gegenüber der Ausländerbehörde angegeben werden müsse, über Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu verfügen. Dies gehöre nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Danach müssten eigene Mittel in Höhe des monatlichen Bedarfs zur Verfügung stehen, der nach den §§ 13, 13a Abs. 1 BAföG bestimmt werde. Verfügten die Kläger jedoch über solche Mittel, wirke sich dies auf ihre Hilfebedürftigkeit aus. Es sei dann auch entscheidungserheblich.
Verfassungskonforme Auslegung unzureichend geprüft
Darüber hinaus sei nicht hinreichend dargelegt, ob die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Ausgangsfall entscheidungserheblich ist, so das BVerfG weiter. Fände die insoweit relevante Rechtsprechung des Bundesozialgerichts Anwendung, wonach die Ausschlussregelungen verfassungskonform auszulegen seien, läge es zumindest nahe, dass die Kläger einen Anspruch auf Leistungen hätten. Soweit das vorlegende Gericht die verfassungskonforme Auslegung ablehne, weil damit kein gesetzlicher Anspruch begründet werde, lege es nicht hinreichend dar, warum eine Leistung, die im Ermessen stehe, nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot genüge, die menschenwürdige Existenz im Wege gesetzlicher Ansprüche zu sichern, obwohl sich das Ermessen auf Null reduzieren könne und dann zum unmittelbaren Anspruch auf Leistung werde. Schließlich fehlten weitere fachrechtliche Darlegungen. So könne aus dem Vorlagebeschluss nicht entnommen werden, welchen aktuellen Aufenthaltsstatus die Kläger hätten.
Ungenügende Auseinandersetzung mit monierter Unbestimmtheit von § 7 Abs. 5 SGB II
Laut BVerfG ist auch die Vorlage im Verfahren 1 BvL 6/16 unzulässig, weil die Darlegungen den Anforderungen nur teilweise genügen. Das SG habe die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 5 SGB II mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG begründet. Es sei nicht ersichtlich, warum Personen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zustehen solle, weil sie eine Ausbildung oder ein Studium ohne Förderung absolvierten. Es habe seine Überzeugung der Verfassungswidrigkeit im Ausgangspunkt auch hinreichend dargelegt. Doch fehlten weitere für die verfassungsrechtliche Prüfung zentrale Darlegungen. Es fehle eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, die Regelung zum Leistungsausschluss verfassungskonform auszulegen. Soweit das vorlegende Gericht argumentiere, die Vorschrift sei unbestimmt, fehle eine Auseinandersetzung mit der BVerfG-Rechtsprechung zu unbestimmten Rechtsbegriffen. Diese seien im Rahmen der Arbeitslosenhilfe nicht beanstandet worden und müssten nach ständiger Rechtsprechung auch nur so bestimmt sein, wie dies nach der Eigenart der zu regelnden Sachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich sei, solange die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten könnten. Was daraus vorliegend folge, erschließe sich aus der Vorlage nicht.
Folgen einer Besserstellung nicht berücksichtigt
Desgleichen vermisst das BVerfG Darlegungen zur Anwendung der damaligen Härtefallvorschrift des § 27 Abs. 4 SGB II. Insoweit wäre die Frage zu beantworten, was daraus folge, wenn die vom vorlegenden Gericht geforderte Zuschussregelung die Betroffenen nach dem SGB II besserstellen würde als diejenigen, die im Rahmen des BAföG Leistungen lediglich als Darlehen erhalten.
SG hätte auch Ausbildungsförderungsrecht thematisieren müssen
Das BVerfG rügt zudem, dass die Vorlage entscheidungserhebliche Fragen nicht thematisiere, deren Beantwortung in diesem konkreten Fall für die verfassungsrechtliche Prüfung unverzichtbar sei. Grundsätzlich sei ein Gericht im Rahmen einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG allerdings nur gehalten, das Fachrecht aufzuarbeiten, über das es auch selbst zu entscheiden habe. Richteten sich die Bedenken jedoch gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhänge, müssten die weiteren mit ihr im Zusammenhang stehenden Bestimmungen einbezogen werden, soweit dies zum Verständnis der zur Prüfung gestellten Norm oder zur Darlegung ihrer Entscheidungserheblichkeit erforderlich sei. Die hier vorgelegte Regelung zum Leistungsausschluss in einem System der sozialen Sicherung normiere das Verhältnis zweier Leistungssysteme zueinander, der Grundsicherung und des BAFöG. Beide seien untrennbar verzahnt. Mit dem Ausbildungsförderungsrecht befasse sich das vorlegende Gericht aber nicht.
Amtshaftung und Folgen der Erfüllung von Mitwirkungspflichten ungeklärt gelassen
Laut BVerfG ist zudem nicht geklärt, ob im konkreten Fall der aus § 14 SGB I folgende Beratungsanspruch verletzt sein könnte und daher ein Anspruch aus Amtshaftung oder als sozialrechtlicher Herstellungsanspruch in Betracht komme. Das würde sich auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens auswirken. Hier erschließe sich aus dem fachgerichtlichen Verfahren nicht, inwiefern der Leistungsträger, der von der Entscheidung der Klägerin des Ausgangsverfahrens gewusst habe, eine Ausbildung aufzunehmen, diese dazu aufgefordert habe. Ungeklärt sei auch, ob die Klägerin vom Träger darüber informiert worden sei, dass dann kein Leistungsanspruch mehr bestünde. Unklar bleibe schließlich, welche Rolle es hier wie auch in der Auslegung der Härtefallregelung spiele, dass die Klägerin mit Aufnahme der Ausbildung eine typische Mitwirkungsanforderung erfüllt, die im Rahmen des SGB II gestellt werde.