Polizeibeamte fanden bei polizeilicher Wohnungsdurchsuchung Drogen
Der Beschwerdeführer wurde an einem frühen Samstagmorgen im September 2013 von Rettungskräften aufgefunden, die vermuteten, dass er Betäubungsmittel zu sich genommen hatte. Herbeigerufene Polizeibeamte betraten zum Zweck der Suche nach Personaldokumenten und Hinweisen auf die Art der konsumierten Mittel dessen mit einem Mitbewohner geteilte Wohnung, während der Beschwerdeführer in ein Krankenhaus verbracht wurde. Im Zimmer des Beschwerdeführers fanden die Polizeibeamten unter anderem Cannabisprodukte.
Staatsanwältin ordnete frühmorgens Wohnungsdurchsuchung an
Aufgrund dieses Fundes sahen die Polizeibeamten einen Verdacht gegen den Beschwerdeführer wegen eines Betäubungsmitteldeliktes begründet. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Dass sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter zu erreichen, lässt sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der im Anschluss vollzogenen Durchsuchung des Zimmers des Beschwerdeführers und der Gemeinschaftsräume wurde Beweismaterial beschlagnahmt.
Beschwerdeführer rügte Verstoß gegen verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt
Die Anträge des Beschwerdeführers auf gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsmaßnahmen und die entsprechenden Beschwerden zum Landgericht blieben erfolglos. Dagegen wendete sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde. Er sah sich in seinem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Die Entscheidungen verstießen gegen den verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt.
Regelung des richterlichen Bereitschaftsdienstes am zuständigen Amtsgericht
Bei dem zuständigen Amtsgericht bestand im Jahr 2013 an Samstagen und dienstfreien Tagen ein richterlicher Bereitschaftsdienst in Form einer Präsenzbereitschaft im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr, an Sonn- und Feiertagen im Zeitraum von 11 Uhr bis 12 Uhr. Diese Bereitschaft dauerte jeweils auch nach 12 Uhr an, sofern zuvor durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei eilige Anträge angekündigt worden waren. Darüber hinaus war ein Bereitschaftsrichter an allen Wochentagen außerhalb der regulären Dienstzeit eingeteilt, sofern nach vorheriger Ankündigung durch die Polizei bei besonderen Lagen ein Bedarf an gefahrenabwehrrechtlichen richterlichen Entscheidungen bestand. Außerdem war ein richterlicher Rufbereitschaftsdienst eingerichtet, der jeweils nach Dienstende (montags bis donnerstags ab 16:15 Uhr; freitags ab 15 Uhr; samstags, sonntags und feiertags ab 12 Uhr) begann und bis 21 Uhr andauerte. Der Rufbereitschaftsdienst war nur zuständig für eilige strafprozessuale Maßnahmen und Entscheidungen im Einzelfall nach § 56 SOG M-V und § 40 BPolG.
BVerfG sieht Art. 13 Abs. 1 GG durch Feststellung der Rechtmäßigkeit der staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsanordnung verletzt
Das BVerfG hat den LG-Beschluss aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, soweit die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft betroffen ist. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da der Beschwerdeführer hinsichtlich der ersten Durchsuchung der Wohnung auf polizeirechtlicher Grundlage der Beschwerdeführer den gesetzlichen Begründungserfordernissen nicht genügt habe.
Nichterreichbarkeit des richterlichen Bereitschaftsdienstes begründet nicht ohne Weiteres Gefahr im Verzug
Das BVerfG betont die Bedeutung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG und die damit einhergehende Verpflichtung der staatlichen Organe, die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten. Nach Wortlaut und Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG sei die richterliche Durchsuchungsanordnung die Regel und die nichtrichterliche die Ausnahme, so dass der dort verwendete Begriff "Gefahr im Verzug" eng auszulegen ist. Die Annahme von Gefahr im Verzug könne nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlich zu einem bestimmten Zeitpunkt mangels Erreichbarkeit eines zuständigen Richters nicht zu erlangen. Gefahr im Verzug liege in einem solchen Fall nur vor, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist. Damit korrespondiere die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, zu sichern.
Vorgaben für Vorhalten eines richterlichen Bereitschaftsdienstes
Laut BVerfG gehört zu den Anforderungen an einen dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen Bereitschaftsdienst die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden. Die Tageszeit umfasse dabei entsprechend den heutigen Lebensgewohnheiten ganzjährig die Zeit zwischen 6 Uhr und 21 Uhr. Während der Nachtzeit sei ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst verfassungsrechtlich nur insoweit geboten, als ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen bestehe.
Geringerer Bedarf zur Nachtzeit rechtfertigt begrenzte Erforderlichkeit nächtlichen Bereitschaftsdienstes
Der geringere nächtliche Bedarf folge schon aus dem Umstand, dass Wohnungsdurchsuchungen nachts wegen des besonderen Schutzes der Nachtruhe nur ausnahmsweise zulässig sind, erläutert das BVerfG. Dem habe der Gesetzgeber grundsätzlich auch Rechnung getragen. Gemäß § 104 Abs. 1 StPO dürften Wohn- und Geschäftsräume sowie befriedetes Besitztum mit Ausnahme der in § 104 Abs. 2 StPO genannten Räumlichkeiten während der Nachtzeit im Sinne von § 104 Abs. 3 StPO nur bei Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen durchsucht werden. Gefahr im Verzug als in der Praxis häufigster Ausnahmefall liege vor, wenn der Aufschub der Durchsuchung bis zum Tagesbeginn ihren Erfolg wahrscheinlich gefährden würde, beispielsweise, weil in der Zwischenzeit Beweismittel vernichtet werden könnten. Unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 GG folge, dass - über die Regelung des § 104 Abs. 3 StPO hinaus - der Vollzug von Wohnungsdurchsuchungen ganzjährig zwischen 21 Uhr und 6 Uhr eingeschränkt ist. Daher könne für diese Zeit von einem regelmäßig deutlich geringeren Bedarf auch an Anordnungen von Wohnungsdurchsuchungen ausgegangen werden.
Gerichtspräsidien haben bei Bedarfsprognose Spielraum
Ob und inwieweit ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen die Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit erfordere, müssten die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung entscheiden, so das BVerfG weiter. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung stehe ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.
AG versäumte Auseinandersetzung mit Art. 13 Abs. 1 GG
Das BVerfG stellt anschließend fest, dass die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen diesen Maßstäben nicht gerecht werden, soweit sie die Durchsuchungsanordnung der Staatsanwaltschaft als rechtmäßig erachtet haben. Das Amtsgericht habe sich bereits nicht mit dem Richtervorbehalt in Art. 13 Abs. 2 GG auseinandergesetzt und nicht geprüft, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin wegen Gefahr im Verzug zur Anordnung der Durchsuchung berechtigt war. Es habe seine Entscheidung unzureichend nur mit dem Vorliegen eines Anfangsverdachts begründet.
LG stellte unzulässig nur auf tatsächliche Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters ab
Das Landgericht hat den Verfassungsverstoß nicht ausgeräumt. Es habe sich zwar mit der Frage befasst, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin ihre Zuständigkeit wegen Gefahr im Verzug annehmen durfte. Bei der Auslegung des Begriffs Gefahr im Verzug habe es die sich aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch nicht beachtet. Entgegen der von ihm vertretenen Auffassung habe nicht dahingestellt bleiben können, ob das Amtsgericht seiner aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG folgenden Verpflichtung zur Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes nachgekommen war. Das Landgericht habe die Frage, ob Gefahr im Verzug vorlag, ausschließlich anhand der tatsächlichen Möglichkeiten der mit der Sache befassten Bereitschaftsstaatsanwältin und somit nur anhand der tatsächlichen Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht beurteilt. Es habe allein darauf abgestellt, ob die Bereitschaftsstaatsanwältin davon ausgehen durfte, dass ein Zuwarten bis zum Beginn des vorhandenen richterlichen Bereitschaftsdienstes den Durchsuchungszweck gefährdet hätte. Ob das Amtsgericht verpflichtet gewesen sei, einen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst für den Zeitraum einzurichten, in dem die Staatsanwältin mit der Sache befasst gewesen sei, habe es dagegen für unmaßgeblich gehalten.
Berufung auf tatsächliche Nichterreichbarkeit des Bereitschaftsdienstes nur bei verfassungskonformer Ausgestaltung tragfähig
Das BVerfG unterstreicht aber, dass der Verweis auf die tatsächliche Erreichbarkeit des ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes nur dann verfassungsrechtlich tragfähig sei, wenn die konkrete Ausgestaltung den Anforderungen von Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG genügt. Danach könnten Durchsuchungsanordnungen der Staatsanwaltschaft oder ihrer Ermittlungspersonen nicht unter Berufung auf Gefahr im Verzug gerechtfertigt werden, wenn diese gerade aus der unter Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG unterbliebenen Einrichtung eines ausreichenden ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes resultiert. Zwar könne den Ermittlungsbehörden in einem solchen Fall keine Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Darauf komme es indes auch nicht an.
Präventiver Richtervorbehalt würde anderenfalls unterlaufen
Denn die Verpflichtung, die Voraussetzungen für eine tatsächlich wirksame präventive richterliche Kontrolle zu schaffen, richte sich an alle staatlichen Organe. Diese Verpflichtung könnte unterlaufen werden, wenn die Rechtmäßigkeit von Eingriffsmaßnahmen in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG letztlich mit einem dauerhaft Art. 13 Abs. 2 GG verletzenden Zustand der Gerichtsorganisation begründet werden könnte. Verletzten die Gerichtspräsidien ihre Pflicht zur Einrichtung eines das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 13 Abs. 2 GG wahrenden ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes und stützten die Ermittlungsbehörden ihre Anordnungskompetenz deswegen auf Gefahr im Verzug, führe dies zur Rechts- und Verfassungswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung.
Ausgestaltung des Bereitschaftsdienstzeiten am AG genügte Art. 13 Abs. 1 GG nicht
Laut BVerfG wurde die Ausgestaltung der Bereitschaftsdienstzeiten bei dem zuständigen Amtsgericht im Jahr 2013 den Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht gerecht. An besagtem Samstag habe ein richterlicher Präsenzbereitschaftsdienst im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr bestanden, an den sich ein bis 21 Uhr dauernder Rufbereitschaftsdienst angeschlossen habe. Im Zeitraum zwischen 6 Uhr und 10 Uhr sei dagegen kein Ermittlungsrichter erreichbar gewesen. Die - unabhängig vom konkreten Bedarf gebotene - uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, die ausnahmslos auch für Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage sicherzustellen sei, sei auf diese Weise nicht gewährleistet gewesen. Ein Ermittlungsrichter hätte mindestens ab 6 Uhr erreichbar sein müssen. Der vom Landgericht irrtümlich angenommene Beginn des Bereitschaftsdienstes um 11 Uhr wäre demnach erst recht nicht geeignet gewesen, den Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu genügen.
Vom LG versäumte Prüfungen
Dem BVerfG zufolge hätte das Landgericht sich daher mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Anordnung der Durchsuchung durch die Bereitschaftsstaatsanwältin an besagtem Samstag um 4:44 Uhr im Falle eines verfassungsgemäß eingerichteten ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes wegen Gefahr im Verzug gerechtfertigt gewesen wäre. Dabei hätte es vorliegend nahegelegen, zunächst zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft ohne Gefährdung des Durchsuchungszwecks bis zur hypothetischen, verfassungsrechtlich mindestens gebotenen Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters um 6 Uhr morgens hätte zuwarten müssen, um sodann eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu beantragen. Hätte das Landgericht dies verneint, weil die durch die Einholung der richterlichen Anordnung bedingte zeitliche Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung aus seiner Sicht gefährdet hätte, hätte es sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob für das Präsidium des Amtsgerichts angesichts des Bedarfs an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen Anlass bestanden hätte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zum Zeitpunkt der staatsanwaltlichen Durchsuchungsanordnung sicherzustellen.