BVerfG: Hartz-IV-Sanktionen teilweise verfassungswidrig

Die monatelangen Leistungskürzungen, mit denen Jobcenter unkooperative Hartz-IV-Bezieher sanktionieren, sind teilweise verfassungswidrig. Mehr als 30% des maßgebenden Regelbedarfs dürfen den Kürzungen nicht zum Opfer fallen. Auch in Bezug auf Härtefälle und die zwingende Dauer der Sanktionen von drei Monaten muss der Gesetzgeber nachjustieren. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 05.11.2019 verkündet (Az. 1 BvL 7/16).

Jobcenter kürzte Leistungen um 234,60 Euro

Erst strich ihm das Jobcenter 117,30 Euro im Monat, bei der nächsten Verfehlung 234,60 Euro: Dass er bei der Arbeitssuche nicht gemäß seinen Pflichten aus § 31 Abs. 1 SGB II kooperierte, wie er sollte, hatte für einen Hartz-IV-Empfänger in Erfurt 2014 schmerzhafte Folgen. Das Gesetz sieht in § 31b SGB II vor, dass Betroffene drei Monate weniger Geld erhalten. Wer ohne triftigen Grund einen Termin versäumt, büßt 10% des Regelsatzes ein. Dieser liegt für alleinlebende Erwachsene bei 424 Euro monatlich (432 Euro ab 2020). Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt nach § 31a SGB II 30% aufs Spiel, beim zweiten Mal in einem Jahr 60%. Beim dritten Mal entfällt das Arbeitslosengeld II komplett, samt Heiz- und Wohnkosten. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen. Das sieht auch die Bundesagentur für Arbeit kritisch.

SG Gotha: Weniger als Existenzminimum ist verfassungswidrig

Das vorlegende Gericht, das Sozialgericht im thüringischen Gotha, hält die Sanktionen für verfassungswidrig. Denn Betroffenen bleibe dann weniger als das Existenzminimum. Der Staat lasse Menschen in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosigkeit abgleiten. Die Richter setzten daher das bei ihnen anhängige Verfahren aus, um die Vorschriften in Karlsruhe überprüfen zu lassen.

BVerfG: Sanktionen müssen verhältnismäßig sein

Das BVerfG hat nun entschieden, dass der Gesetzgeber die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden kann. Das bedeutet, solche Leistungen sind nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er könne erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und er dürfe die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung setzen die Richter hierfür allerdings strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft seien und je fundierter der Gesetzgeber damit deren Wirkungen einschätzen könne, desto weniger dürfe er sich allein auf Annahmen stützen. Auch müsse es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

30% sind die Grenze

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des BVerfG zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30% des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben werde. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt. 

Bisherige Vorschriften bleiben bis Neuregelung mit Einschränkungen anwendbar

Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibe die - für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende - Leistungsminderung in Höhe von 30% nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60% sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) seien bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30% des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs sei bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.

Bundesregierung verteidigte Sanktionen in Verhandlung

Seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2005 weht für die Bezieher ein rauerer Wind. Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, verpflichtet sich, aktiv daran mitzuarbeiten, dass das so bald wie möglich nicht mehr notwendig ist. Sonst bekommt er die unschöne Seite des Prinzips "Fördern und Fordern" zu spüren. Die Bundesregierung hält das bis heute für notwendig, das BVerfG hat diesen Ansatz im Grundsatz nun bestätigt. "Der Sozialstaat muss ein Mittel haben, die zumutbare Mitwirkung auch verbindlich einzufordern", so Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in der Verhandlung im Januar 2019. Als SPD-Politiker will er die besonders scharfen Sanktionen für Unter-25-Jährige abschaffen und das Streichen der Unterkunftskosten beenden. In den ersten zwei Jahren mit Hartz IV sollen die Jobcenter außerdem niemanden mehr auffordern, sich eine günstigere Wohnung zu suchen. Mietkosten sollen in dieser Zeit generell übernommen werden. Allerdings ist völlig offen, was von diesen Vorstellungen in der Koalition umsetzbar ist.

Anwältin: Abwärtsspirale aus Resignation und Existenzangst

Susanne Böhme, Anwältin des Hartz-IV-Empfängers in dem Fall aus Erfurt, sieht Betroffene in eine Abwärtsspirale aus Resignation und Existenzangst geraten. Ihr Mandant hatte 2014 eine Stelle als Lagerarbeiter abgelehnt, weil er lieber in den Verkauf wollte. Als er im Verkauf zur Probe arbeiten sollte, ließ er den erhaltenen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein verfallen.

8,5% der Hartz-IV-Bezieher von Sanktionen betroffen

2018 haben die Jobcenter rund 904.000 Sanktionen verhängt, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Um die gravierenderen Verfehlungen geht es bei knapp jeder fünften Sanktion. Weil es dieselbe Person auch mehrfach treffen kann, ist die Zahl der Betroffenen niedriger. Vergangenes Jahr waren es insgesamt 441.000. Damit waren 8,5% aller Hartz-IV-Empfänger mindestens einmal von einer Sanktion betroffen. Nach den Vergleichszahlen für den Monat Dezember wurden im Durchschnitt 109 Euro gestrichen. Einmal verhängt, kann eine Sanktion nach der bisherigen Gesetzeslage nicht mehr zurückgenommen werden, und wenn der Betroffene sich noch so einsichtig zeigt. Die Jobcenter können aber Gutscheine für Lebensmittel, Hygieneartikel oder Bustickets ausgeben und dem Vermieter oder Energieversorger direkt Geld überweisen. Sind Kinder betroffen, muss das Amt helfen.

Politische Ansätze für Veränderungen am Hartz-IV-System

Die SPD will Hartz IV überwinden und peilt ein System mit weniger Sanktionen und höheren Leistungen für ältere Arbeitslose an. Auch die Grünen wollen grundsätzlich an Hartz IV ran. Die Linke will das System abschaffen. Die Bundesagentur für Arbeit hat ebenfalls Reformvorschläge gemacht - etwa für die komplizierte Berechnung der Leistungen. So könnten die sechs Stufen beim Hartz-Satz vermindert werden. Auf aufwendige Einzelprüfungen könnte verstärkt verzichtet werden. Mehrbedarfe könnten in einem höheren Regelsatz pauschal enthalten sein. Eher wenig am System ändern will die Union.

BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16

Redaktion beck-aktuell, 5. November 2019 (dpa).