Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 12/2019 vom 21.06.2019
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Sachverhalt
Die Klägerin war seit August 2014 als Büroangestellte bei der C. GmbH beschäftigt. Auf Antrag der AOK ordnete das Amtsgericht die vorläufige Insolvenzverwaltung durch Beschluss vom 13.11.2014 an, lehnte aber die Eröffnung des Insolvenzverfahrens neun Monate später mangels Masse ab. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit sofortiger unwiderruflicher Freistellung und mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Wirkung zum 31.01.2015. Mit ihrem Antrag auf Insolvenzgeld vom 23.12.2014 macht die Klägerin geltend, dass Lohnzahlungen für November 2014, Dezember 2014 und Januar 2015 ausstünden. Der vorläufige Insolvenzverwalter teilte mit, dass der Geschäftsbetrieb der Arbeitgeberin zum 11.12.2014 vollständig eingestellt worden war. Die beklagte BA ging von der Fortführung des Betriebs und einer Übernahme der Arbeitsverhältnisse durch die T. GmbH aus und teilte dieser mit, dass er gemäß § 613a BGB neben der Insolvenzschuldnerin für den ausgefallenen Lohn hafte. Sie bewilligte der Klägerin Insolvenzgeld, zunächst als Vorschuss, und später in Höhe von 1.577 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2014 bis 11.12.2014. Ab diesem Zeitpunkt sei die T. GmbH zahlungspflichtig, weil auf sie gemäß § 613a der Betrieb übergegangen sei. Auf die Klage verurteilt das Sozialgericht die BA zur Zahlung von Insolvenzgeld auch für den Zeitraum vom 12.12.2014 bis 31.01.2015. Es lasse sich nicht feststellen, dass der Betrieb der Arbeitgeberin mit ursprünglich mindestens 80 Arbeitnehmern und zahlreichen Filialen vollumfänglich von der T. GmbH weitergeführt worden sei. Das LSG weist die Berufung der BA zurück. Es widerspreche dem Zweck des Insolvenzgeldes, wenn der Arbeitnehmer nach einer durch ein gesetzliches Insolvenzereignis eingetretenen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers auf das Ergebnis des Insolvenzverfahrens bzw. die Geltendmachung von ausstehenden Arbeitsentgeltansprüchen gegen Dritte verwiesen werde. Dagegen richtet sich die vom BSG zugelassene Revision der BA. Diese rügte eine Verletzung der §§ 165, 166 und 169 SGB III i.V.m. § 613a BGB. Habe bei einem Betriebsübergang ein Arbeitgeberwechsel vor dem Insolvenzereignis stattgefunden, ende der Insolvenzgeldzeitraum mit der Betriebsübernahme.
Entscheidung
Das BSG hebt das Urteil des LSG auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Im Falle eines Betriebsübergangs vor dem Insolvenzereignis endet der Insolvenzgeldzeitraum trotz fortbestehenden Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers mit der Betriebsübernahme durch den neuen Erwerber. Wegen eines Insolvenzereignisses bei dem bisherigen Arbeitgeber steht dem Arbeitnehmer Insolvenzgeld dann nur bis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs zu. Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Rechte und Pflichten aus dem im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnisses ein. Dazu bedarf es nicht eines speziellen, auf die Arbeitsverhältnisse bezogenen Rechtsgeschäfts, sondern vom LSG ist nun zu prüfen, ob im konkreten Fall die für den Betrieb verantwortliche natürliche oder juristische Person, die Arbeitgeberpflichten gegenüber den Beschäftigten eingegangen ist, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselte und die in Rede stehende Einheit nach Übernahme durch den neuen Inhaber ihre Identität bewahrt (dazu ausführlich: BAG vom 25.08.2016 – 8 AzR 53/15).
Allerdings ist nach den bisher getroffenen Feststellungen durchaus fraglich, ob ein Inhaberwechsel durch Rechtsgeschäft, also durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung vorliegt. Auch der Zeitpunkt ist fraglich. Unklar ist auch, ob der Betrieb tatsächlich in der bisherigen Struktur einschließlich einer gesonderten Verwaltungsabteilung weitergeführt worden ist. Diese Umstände sind aufzuklären. Verbleibt es nach Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts bei Zweifeln, geht dies zu Lasten der Beklagten. Nach den Grundsätzen der Verteilung der objektiven Beweislast gilt, dass die Unbeweisbarkeit einer Tatsache im Zweifel zu Lasten des Beteiligten geht, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleitet. Nach dem Regelungsgefüge der §§ 165 ff. SGB III trägt die Beklagte die objektive Beweislast für das Vorliegen eines Betriebsübergangs im Insolvenzgeldzeitraum. Dieses Ergebnis wird auch durch den Zweck des Insolvenzgeldes, das der Sicherung des Lebensunterhalts des Arbeitnehmers dient, bestätigt.
Praxishinweise
1. Bemerkenswert ist, dass immerhin nach mehr als dreijährigem Rechtsstreit noch unklar ist, was mit dem Arbeitsplatz geschehen ist, den die Klägerin – allerdings nur für wenige Monate – ausfüllte. Nach dem sehr knappen Sachverhalt ging es immerhin um 80 Arbeitnehmer und „zahlreiche Filialen". Offensichtlich sind einige Filialen fortgeführt worden und vielleicht auch der eine oder andere Arbeitnehmer von einem neuen Inhaber übernommen worden. Zu einer solchen eher unklaren Situation nimmt nun aktuell der Europäische Gerichtshof Stellung in seinem Urteil vom 16.05.2019 – C 509/17: Im Falle eines Unternehmensübergangs, der im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens der Reorganisation durch Übertragung unter der Autorität des Gerichts erfolgt, ist es dem Erwerber nicht gestattet, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte, sondern es gelten die Regelungen über den Betriebsübergang nach Art. 3 bis 5 der Richtlinie 23/2001. Der vom BSG entschiedene Fall scheint ähnlich gelagert zu sein: Nach den Behauptungen der BA hat der neue Betreiber „weniger als die Hälfte der ursprünglichen Belegschaft" übernommen, also wohl exakt das Auswahlrecht für sich in Anspruch genommen, welches nach der Entscheidung des EuGH gegen die Richtlinie 23/2001 verstößt.
2. Aufgabe aller Beteiligten, nicht nur des vorläufigen Insolvenzverwalters, auch der BA ist es, sehr kurzfristig Möglichkeiten einer Sanierung auszuloten und zu schauen, ob ein neuer Investor/Betreiber den Betrieb oder Teile davon fortzuführen bereit und in der Lage ist. In aller Regel werden dabei nicht alle Arbeitsverhältnisse fortgeführt, so dass mit der vorliegenden Entscheidung des BSG der Arbeitnehmerin, die vom Betriebserwerber kein Arbeitsangebot erhalten hat, das Lohnrisiko nun auch noch für den dreimonatigen Insolvenzgeld-Zeitraum auferlegt wird.