BGH: Zur Herabsetzung der Stimmkraft von sogenannten «Geisterwohnungen»

WEG § 10 Abs. 2 Satz 3, § 16 Abs. 4, § 21 Abs. 8

1. Besteht ein erhebliches Übergewicht eines Eigentümers an Stimmen dadurch, dass diesem in der Teilungserklärung ein Stimmanteil für - hier seit 20 Jahren - nicht errichtete Wohnungen zusteht, kann ausnahmsweise eine Herabsetzung der Stimmkraft erfolgen.

2. Auf Rechtsfolgenseite ist dem Umstand, dass das Stimmrecht der Wohnungseigentümer zu dem Kernbereich elementarer Mitgliedschaftsrechte gehört, dadurch Rechnung zu tragen, dass die Beschränkung des Stimmrechts nur solange erfolgt, wie die verbleibenden Einheiten noch nicht fertiggestellt sind.

BGH, Urteil vom 18.01.2019 - V ZR 72/18, BeckRS 2019, 10007

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bub, Rechtsanwalt Nikolay Pramataroff, Rechtsanwälte Bub, Memminger & Partner, München und Frankfurt

Aus beck-fachdienst Miet- und Wohnungseigentumsrecht 12/2019 vom 21.06.2019

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Sachverhalt

Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Die Beklagte zu 1 ist Bauträgerin. Sie teilte das ursprünglich in ihrem Eigentum stehende Grundstück 1994 in Wohnungs- und Teileigentum auf. Nach der Teilungserklärung (nachfolgend TE) sollten in vier Bauabschnitten auf dem Grundstück vier Häuser und eine in vier Unterabschnitte aufgeteilte Tiefgarage errichtet und hieran acht Untergemeinschaften gebildet werden, davon jeweils eine Untergemeinschaft für jedes Haus und jeden Tiefgaragenabschnitt. Die Beklagte zu 1 errichtete zwei Häuser mit 122 Wohneinheiten (Bauabschnitte I und II), die im Eigentum der Kläger und der Beklagten zu 2 stehen und denen jeweils Sondernutzungsrechte an Tiefgaragenstellplätzen oder Parkboxen in Doppelparkern zugeordnet sind. Die Beklagte zu 1 ist Eigentümerin von 120 Wohnungs- und Teileigentumseinheiten in den beiden bislang nicht errichteten Häusern (Bauabschnitte III und IV). Neun dieser Einheiten sind Sondernutzungsrechte an in den Bauabschnitten I und II gelegenen Tiefgaragenstellplätzen zugeordnet. Auf die Bauabschnitte I und II entfallen 5.150,88/10.000 (so die Kläger) bzw. 5.130,60/10.000 (so die Beklagten) Miteigentumsanteile, auf die Bauabschnitte III und IV insgesamt 4.849,12/10.000 bzw. 4.869,40/10.000 Miteigentumsanteile.

Nach § 9 Abs. 4 TE werden die Kosten und Lasten, soweit sie von Eigentümern gemeinschaftlich zu tragen sind, ausdrücklich nicht nach Miteigentumsanteilen, sondern im Verhältnis der Wohnflächen verteilt, die nach der II. Berechnungsverordnung in der zum Zeitpunkt der Teilung geltenden Fassung ermittelt werden. In den Tiefgaragen werden die Kosten nach einem gesonderten Schlüssel verteilt. Nach § 12 Abs. 1 TE richtet sich das Stimmrecht in der Eigentümerversammlung nach dem Anteilsverhältnis, nach dem die Eigentümer gemeinschaftliche Kosten gemäß der Regelung in § 9 Abs. 4 TE zu tragen haben. Die Gemeinschaftsordnung kann nach § 18 TE mit einer Mehrheit von drei Viertel der abgegebenen Stimmen geändert werden, wenn sachliche Gründe vorliegen. In einer Anlage II zu der Teilungserklärung sind alle - auch die bis heute nicht errichteten - Wohnungen aufgeführt unter Angabe des jeweiligen Miteigentumsanteils und der ungefähren Größe der (geplanten) Wohnung. Daraus ergibt sich eine Wohnfläche für die errichteten Wohnungen von 8.547,98 m² und für die nicht errichteten Wohnungen von 7.787,52 m². Dies entspricht einem Stimmkraftanteil der Beklagten zu 1 von rund 48%.

In der Eigentümerversammlung vom 14.01.2017 wurde der Antrag abgelehnt, § 12 Abs. 1 TE dahingehend abzuändern, dass sich das Stimmrecht der Beklagten zu 1 nach dem jeweiligen Miteigentumsanteil für die nicht errichteten Wohnungen berechnet, bis diese bezugsfertig errichtet werden.

Das Amtsgericht hat die gegen diesen Negativbeschluss gerichtete Anfechtungsklage abgewiesen und § 12 Abs. 1 TE auf Antrag der Kläger gemäß § 21 Abs. 8 WEG durch folgende Regelung ersetzt:

„Solange eine Sondereigentumseinheit nicht bezugsfertig errichtet ist, errechnet sich die Stimmkraft des betreffenden Miteigentumsanteils aus dem Wert in der Spalte ‚Eigentumsanteil 10.000stel' der oben genannten Anlage II multipliziert mit dem Faktor 1,0. Für die Nutzungsrechte an der Tiefgarage sind die Werte für fiktive Flächen hinzuzurechnen und zwar für jeden Einzelstellplatz der Wert von drei und für jede Box der Wert von zwei (ein Doppel-Parker zusammen also ein Wert von vier). Ab dem Zeitpunkt der bezugsfertigen Errichtung des Sondereigentums ist die Stimmkraft des damit verbundenen Miteigentumsanteils mit dem Wert zu berücksichtigen, der sich aus der anteiligen Wohnfläche ergibt. Die Wohnfläche wird dabei nach den Regelungen der II. Berechnungsverordnung in der am 2.11.1994 geltenden Fassung ermittelt".

Die Regelung führt im Ergebnis zu einer Herabsetzung des Stimmkraftanteils der Beklagten zu 1 auf zur Zeit etwa 36%. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zu 1 zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Kläger beantragen, verfolgt die Beklagte zu 1 ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

Rechtliche Wertung

Die Revision hat keinen Erfolg.

Der Kläger habe einen Anspruch auf Änderung der Gemeinschaftsordnung aus § 10 Abs. 2 Satz 3 WEG; diese Änderung könne nach § 21 Abs. 8 WEG durch das Gericht vorgenommen werden.

§ 10 Abs. 2 Satz 3 WEG begründe einen (Individual-)Anspruch jedes Wohnungs- oder Teileigentümers gegen die anderen Miteigentümer auf Abschluss einer Vereinbarung, wenn ein Festhalten an der geltenden Regelung aus schwerwiegenden Gründen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Rechte und Interessen der anderen Wohnungseigentümer, unbillig erscheint. Die danach vorzunehmende Würdigung der Umstände des Einzelfalls sei in erster Linie Sache des Tatrichters und revisionsrechtlich nur darauf zu überprüfen, ob die in § 10 Abs. 2 Satz 3 WEG bestimmten Rechtsbegriffe zutreffend erfasst und ausgelegt, alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt sowie die Denkgesetze und Erfahrungssätze beachtet worden seien.

Zutreffend sei, dass das Stimmrecht der Wohnungseigentümer zum Kernbereich elementarer Mitgliedschaftsrechte gehöre. Dies schließe Einschränkungen des Stimmrechts zwar nicht prinzipiell aus, führe aber dazu, dass eine solche nur ausnahmsweise und lediglich unter eng begrenzten Voraussetzungen in Betracht komme.

Die Stimmrechtsregelung der Teilungserklärung führe zu einem Stimmanteil der Beklagten zu 1 von 48%, obwohl ihre Miteigentumsanteile nicht mit dem Sondereigentum an tatsächlich vorhandenen Wohnungen verbunden seien. Nach den in § 9 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 TE getroffenen Regelungen seien für die Verteilung der gemeinschaftlich zu tragenden Kosten und für die Berechnung der Stimmenanteile der Miteigentümer in der Eigentümerversammlung die Wohnflächen zu Grunde zu legen. Die Regelung enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass hierbei nur die Flächen der bereits errichteten Wohnungen und Gewerbeeinheiten berücksichtigt werden sollten. Ein solches Verständnis hätte, da die Teilung vor Beginn der Errichtung der Anlage erfolgt ist, die interessenwidrige Konsequenz gehabt, dass zunächst überhaupt kein Stimmrecht bestanden und kein Verteilungsmaßstab für die Kosten und Lasten des Gemeinschaftseigentums zur Verfügung gestanden hätte. Somit spreche alles dafür, dass die in der Anlage II zur Teilungserklärung aufgeführten Flächenangaben zu Grunde gelegt werden sollten, gleich ob die betreffende Einheit bereits errichtet sei oder nicht.

Diese Regelung liege ersichtlich die Annahme einer zeitnahen Fertigstellung aller geplanten Wohnungen zu Grunde. An eine Bauunterbrechung von mehreren Jahren sei offenbar nicht gedacht worden, und hierauf seien die Stimmrechtsregelungen der Teilungserklärung, die bei der Bemessung der Stimmkraft allein auf die (geplanten) Wohnflächen abstellen und nicht zwischen bereits fertiggestellten und noch in Planung bzw. im Bau befindlichen Wohnungen differenzieren, erkennbar nicht zugeschnitten.

Es sei auch unbillig, an der Stimmrechtsregelung der Teilungserklärung festzuhalten. Die Regelung in § 9 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 TE führe aufgrund der eingetretenen Bauunterbrechung im Ergebnis dazu, dass der Beklagten zu 1 in der Eigentümerversammlung seit mittlerweile über 20 Jahren ein Stimmanteil von rund 48% zustehe, obwohl sie keine tatsächlich vorhandenen Sondereigentumseinheiten hält. Die Beklagte zu 1 habe damit in der Eigentümerversammlung eine faktische Mehrheit. Zwar bestehen nach der Teilungserklärung für die einzelnen Häusergruppen Untergemeinschaften, die, soweit wie rechtlich möglich, als selbständige Eigentümergemeinschaften behandelt werden sollen. Dies führe dazu, dass die Mitglieder der Untergemeinschaften über Maßnahmen, die ein zu dieser Untergemeinschaft gehörendes Gebäude betreffen, weitestgehend allein und unter Ausschluss der übrigen Miteigentümer entscheiden können. Das ändere aber nichts daran, dass die Verwaltung des Grundstücks als Ganzes den Wohnungseigentümern gemeinsam zustehe (§ 21 Abs. 1 WEG), so dass die Beklagte zu 1 etwa bei der Beschlussfassung über die Verwalterbestellung, über den (Gesamt-)Wirtschaftsplan und die (Gesamt-)Jahresabrechnung zu beteiligen sei. Die Wohnungseigentümer werden folglich in diesen besonders wichtigen Angelegenheiten „fremdbestimmt" durch eine Miteigentümerin mit faktischer Mehrheitsmacht, die keine Wohnungen halte und daher von der Verwaltung des Gemeinschaftseigentums allenfalls in Randbereichen betroffen sei. Nachdem eine baldige Errichtung der weiteren Sondereigentumseinheiten auch 20 Jahre nach dem Entstehen der Wohnungseigentümergemeinschaft nicht absehbar sei, könne es als unbillig angesehen werden, die übrigen Wohnungseigentümer an einer Stimmrechtsregelung festzuhalten, nach der die nicht errichteten Einheiten bei der Bemessung der Stimmkraft voll zu berücksichtigen seien.

Auch sei die von dem Berufungsgericht bestimmte Rechtsfolge des Anspruchs der Kläger aus § 10 Abs. 2 Satz 3 WEG auf Änderung der Teilungserklärung nicht zu beanstanden. Dem Umstand, dass das Stimmrecht der Wohnungseigentümer zu dem Kernbereich elementarer Mitgliedschaftsrechte gehöre und nur ausnahmsweise und lediglich unter eng begrenzten Voraussetzungen eingeschränkt werden könne, sei auf der Rechtsfolgenseite des Anspruchs aus § 10 Abs. 2 Satz 3 WEG dadurch Rechnung zu tragen, dass die Stimmkraft des Eigentümers von „Geisterwohnungen" nur maßvoll und nur vorübergehend bis zur Fertigstellung der verbleibenden Sondereigentumseinheiten beschränkt werde.

Diese Vorgaben habe das Berufungsgericht beachtet. Die Herabsetzung der Stimmkraft für die nicht errichteten Einheiten um etwa 25% bzw. der Gesamtstimmkraft um 12 Prozentpunkte von etwa 48% auf etwa 36% für die Zeit bis zur Fertigstellung der weiteren Bauabschnitte überschreite nicht die der tatrichterlichen Ermessenausübung revisionsrechtlich gezogenen Grenzen. Insbesondere drohe der Beklagten zu 1 keine Majorisierung durch die übrigen Wohnungseigentümer. Ihr verbleibe insgesamt eine Stimmkraft, mit der sie eine Änderung der Teilungserklärung auf der Grundlage der Öffnungsklausel in § 18 TE verhindern könne.

Praxishinweis

Der Entscheidung des BGH ist zuzustimmen.

Das Stimmrecht der Wohnungseigentümer gehört zu dem Kernbereich elementarer Mitgliedschaftsrechte (BGH, Urteil vom 14.07.2017 – V ZR 290/16, NJW 2018, 552) und, da es ein wesentliches Mittel zur Mitgestaltung der Gemeinschaftsangelegenheiten bildet, darf es nur ausnahmsweise und lediglich unter eng begrenzten Voraussetzungen eingeschränkt werden (BGH, Urteil vom 13.01.2017 – V ZR 138/16, ZWE 2017, 220). § 25 Abs. 5 WEG sieht als Sondervorschrift zu § 181 BGB gerade keinen allgemeinen Stimmrechtsausschluss im Fall von Interessenkonflikten vor, sondern beschränkt den Ausschluss des Stimmrechts auf bestimmte Fälle schwerwiegender Interessenkollisionen, in denen die – sonst legitime – Verfolgung privater Sonderinteressen bei der Willensbildung der Wohnungseigentümer nicht mehr hinnehmbar erscheint (BGH, Urteil vom 06.12.2013 – V ZR 85/13, NZM 2014, 275). Wie sich im Umkehrschluss aus § 25 Abs. 5 Alt. 3 WEG ergibt, lassen auch erhebliche Beitragsrückstände das Stimmrecht nicht entfallen, solange der Wohnungseigentümer nicht gem. § 18 WEG rechtskräftig zur Veräußerung seines Wohnungseigentums verurteilt ist (BGH, Urteil vom 10.12.2010 – V ZR 60/10, NJW 2011, 679). Selbst ein rechtsmissbräuchliches Verhalten kann allenfalls dazu führen, dass die Stimmabgabe bezogen auf die jeweilige Beschlussfassung unbeachtlich ist (BGH, Beschluss vom 19.09.2002 - V ZB 30/02, NJW 2002, 3704).

Vorliegend wird das Stimmrecht jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern nur geringfügig verringert. Diese Beschränkung ist auch nicht unbillig. Das Wohnungseigentum bleibt auf Dauer wirksam, wenn das geplante Gebäude - gleich aus welchen Gründen - nicht errichtet wird und das Sondereigentum daher nicht entsteht (vgl. Senat, Urteil vom 22.12. 1989 - V ZR 339/87, DNotZ 1990, 259). Die Beklagte hätte damit in der Eigentümerversammlung eine faktische Mehrheit, weil bei einer Wohnungseigentümergemeinschaft mit 120 Mitgliedern die Anwesenheit sämtlicher Wohnungseigentümer auch mit Stimmvollmachten regelmäßig nicht zu erreichen sein wird.

Der BGH beschränkt auch die Verringerung des Stimmrechts bis zur Fertigstellung der geplanten Bauvorhaben. Somit hat es der Wohnungseigentümer selbst in der Hand, seine volle Stimmkraft - auch schrittweise - wiederzuerlangen, indem er die weiteren Bauabschnitte fertigstellt.

Redaktion beck-aktuell, 25. Juni 2019.