BGH: Waldeigentümer muss ausgewilderte Wisente auf seinem Grundstück grundsätzlich dulden

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19.07.2019 entschieden, dass sich während der Freisetzungsphase in der Auswilderung von Wisenten eine Duldungspflicht eines Waldeigentümers aus dem Bundesnaturschutzgesetz ergeben kann, sofern die Nutzung seines Grundstücks nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Das Oberlandesgericht habe nun zu klären, ob eine unzumutbare Beeinträchtigung vorliegt. Bestätigt hat der BGH, dass der beklagte Verein dem Eigentümer in der Freisetzungsphase alle zukünftigen von den Wisenten verursachten Baumschäden ersetzen muss (Az.: V ZR 177/17).

Sachverhalt

Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, der sich die Wiederansiedlung von Wisenten im Rothaargebirge zum Ziel gesetzt hat. Im April 2013 schloss er mit dem örtlichen Landkreis, der Bezirksregierung Arnsberg, dem Landesbetrieb Wald und Holz sowie dem Eigentümer des für die Wiederansiedlung ausgewählten Projektgebiets einen öffentlich-rechtlichen Vertrag über die Freisetzung von Wisenten, mit dem sämtliche erforderlichen Genehmigungen für die Aussetzung von Wild mit Ausnahme der (als entbehrlich angesehenen) jagdrechtlichen Genehmigung ersetzt worden sind. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz genehmigte den Vertrag. Im Anschluss entließ der Verein eine achtköpfige Gruppe von Wisenten in das rund 4.300 Hektar große Projektgebiet, um sie dort auszuwildern. Der Vertrag sah vor, dass der Verein zunächst Eigentümer der Tiere blieb.

Kläger will für beschädigte Bäume entschädigt werden

Diese sollten erst nach der auf mehrere Jahre angelegten Freisetzungsphase und nach Abschluss eines weiteren öffentlich-rechtlichen Vertrags herrenlos werden. Die zuletzt auf 19 Tiere angewachsene Herde verließ im Zug ihrer Wanderungen das Projektgebiet und drang unter anderem in den Grundbesitz des Klägers ein. Hierbei handelt es sich um ein Waldgebiet, das - wie auch Teile des Projektgebiets - zu dem Natura-2000-Gebiet "Schanze" gehört und überwiegend mit Rotbuchen nach dem Prinzip der Naturverjüngung bewirtschaftet wird. Wegen der Schäden an den Buchen, die dadurch entstehen, dass die Wisente die Rinde abfressen ("Schälen"), hat der Verein Zahlungen an den Kläger geleistet. Dazu wurde ein auch mit öffentlichen Mitteln finanzierter Entschädigungsfonds eingerichtet.

Bisheriger Prozessverlauf

Der Verein soll geeignete Maßnahmen ergreifen, um ein Betreten der Grundstücke des Klägers durch die Wisente zu verhindern. Ferner soll festgestellt werden, dass der Verein alle zukünftig durch die Wisente verursachten Schäden zu ersetzen hat. Das Landgericht hatte dem ersten Antrag stattgegeben und den zweiten abgewiesen. Im Berufungsverfahren hatte das Oberlandesgericht die Verurteilung insoweit geändert, als der Verein die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um eine Beschädigung der auf dem Grundstück des Klägers wachsenden Bäume zu verhindern, jedoch nur unter dem Vorbehalt, dass dem Verein die für das Einfangen und Umsetzen der (als herrenlos angesehenen) Tiere erforderliche Ausnahmegenehmigung gemäß § 45 Abs. 7 BNatSchG erteilt wird. Darüber hinaus ist festgestellt worden, dass der Verein für die Dauer der Freisetzungsphase verpflichtet ist, die von den Wisenten verursachten Baumschäden zu ersetzen. Dagegen wendeten sich beide Parteien mit ihren von dem Oberlandesgericht zugelassenen Revisionen. Der Kläger will erreichen, dass der auf die Ausnahmegenehmigung bezogene Vorbehalt entfällt, während der beklagte Verein weiterhin die vollständige Abweisung der Klage beantragt.

BGH bejaht Unterlassungsanspruch 

Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Vereins insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Feststellung der Verpflichtung zum Schadensersatz richtet. Bezogen auf den Unterlassungsanspruch hat er die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Die (nur auf den Vorbehalt der Ausnahmegenehmigung bezogene) Revision des Klägers war deshalb gegenstandslos. Die Voraussetzungen eines Unterlassungsanspruchs gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB lägen im Ausgangspunkt vor, entschieden die Richter. Das Eigentum des Klägers an seinem Grundstück werde beeinträchtigt, indem die Wisente in den Grundbesitz des Klägers eindringen und dessen Bäume schädigen. Eine Wiederholungsgefahr sei indiziert.

Verein ist mittelbarer Handlungsstörer

Während der Freisetzungsphase sei der Verein als sogenannter mittelbarer Handlungsstörer hierfür verantwortlich. Letzte Ursache der Schädigungen sei zwar das Verhalten der freigesetzten Tiere und damit ein natürliches Ereignis. Mittelbare Ursache hierfür sei aber eine Handlung des Beklagten, nämlich die Freisetzung der Wisente in dem nicht eingezäunten Projektgebiet. Die Störerhaftung werde zwar jedenfalls dann enden, wenn die Tiere in dem vorgesehenen Verfahren endgültig angesiedelt worden sind. Aber das Oberlandesgericht habe sich zu Recht auf die Überlegung gestützt, dass das Projekt während der derzeitigen Freisetzungsphase erst erprobt werde. Es sollten zunächst Erkenntnisse gewonnen werden, auf die durch Verbesserungsmaßnahmen oder gegebenenfalls mit der Beendigung des Projekts reagiert werden soll. Die dabei auftretenden Beeinträchtigungen Dritter seien dem Verein, der das Projekt initiiert habe und aufrechterhalte, in wertender Betrachtung zuzurechnen. Dies gelte umso mehr, als er die Verantwortung während der Freisetzungsphase in dem öffentlich-rechtlichen Vertrag selbst übernommen und sich zu umfassender Überwachung und Steuerung der Tiere verpflichtet habe.

Verein durfte auch eingreifen

Zu Unrecht stützt sich der Verein darauf, dass ihm ein Eingreifen aus naturschutzrechtlichen Gründen untersagt sei. Zwar sei es gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG verboten, wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten, zu denen Wisente gehörten, nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten (sogenannte "artenschutzrechtliche Zugriffsverbote"). Entgegen der Auffassung des OLG handele es sich bei den ausgewilderten Wisenten und deren Nachkommen aber nicht um wild lebende Tiere in diesem Sinne. Die Herde sei weiterhin Eigentum des Vereins. Maßgeblich hierfür seien die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über das Eigentum an Tieren, bei deren Auslegung artenschutzrechtliche Vorgaben berücksichtigt werden müssen.

Tiere waren nicht herrenlos

Gemäß § 960 Abs. 2 BGB wird ein gefangenes wildes Tier herrenlos, wenn es die Freiheit wiedererlangt, wenn nicht der Eigentümer das Tier unverzüglich verfolgt oder wenn er die Verfolgung aufgibt. Solange der Besitzer eines im Rahmen eines Auswilderungsprogramms freigesetzten Tieres dessen Verbleib mit dem Ziel beobachte und überwache, seinen - wenn auch gelockerten - Besitz zu erhalten, und ihm das Einfangen möglich wäre, habe das Tier die Freiheit nicht wiedererlangt. Es werde (noch) nicht herrenlos, solange die Entscheidung darüber vorbereitet werde, ob es die Freiheit wiedererlangen soll. Es handele sich hier um die Erprobungsphase eines Projekts zur Wiederansiedlung einer verdrängten Tierart. Die Tiere unterlägen nach wie vor dem - wenn auch zunehmend gelockerten - Zugriff des Vereins.

Wisente eindeutig zu identifizieren

Da es sich um die einzigen Exemplare ihrer Art in der Region handele, seien die Tiere eindeutig zu identifizieren und würden nach der Verkehrsanschauung jedenfalls während der Freisetzungsphase dem Verein zugeordnet. Das Einfangen wäre dem Verein schon deshalb möglich, weil es sich um große und unverwechselbare Tiere handele. Die Aufrechterhaltung der Sachherrschaft sei von dem Besitzwillen des Vereins getragen. Denn nach dem öffentlich-rechtlichen Vertrag sollten die artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote in der Freisetzungsphase gerade nicht eingreifen, damit die vertraglich vorgesehenen Möglichkeiten zur Beendigung des Projekts erhalten bleiben. Das Ergebnis entspreche auch den Vorgaben des Artenschutzrechts. Würde eine solche Erprobungsphase durch einen vorzeitigen Eigentumsverlust beendet, könnten Auswilderungsprojekte wie das vorliegende erschwert oder sogar unmöglich gemacht werden.

Aber: Duldungspflicht des Klägers möglich

Die Revision des Vereins habe aber deshalb Erfolg, so der BGH weiter, weil sich bis zur Beendigung der Freisetzungsphase eine Duldungspflicht des Klägers im Sinn von § 1004 Abs. 2 BGB aus § 65 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG ergeben könne. Nach dieser Vorschrift haben Eigentümer und sonstige Nutzungsberechtigte von Grundstücken unter anderem Maßnahmen des Naturschutzes auf Grund von Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes zu dulden, soweit dadurch die Nutzung des Grundstücks nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Die Wiederansiedlung von Tieren stelle grundsätzlich eine Maßnahme des Naturschutzes im Sinne von § 65 BNatSchG dar. Wisente zählten nach den unionsrechtlichen Vorgaben der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) zu den prioritären Arten, für deren Erhaltung der Gemeinschaft besondere Verantwortung zukomme.

Maßnahme nach § 65 BNatSchG

"Maßnahme" sei hier die derzeitige Freisetzungsphase, also ausschließlich die der Herrenlosigkeitsphase vorgeschaltete Erprobung des Projekts. Dem stehe nicht entgegen, dass nicht der Staat, sondern ein Verein in eigener Verantwortung privatrechtlich tätig wird. Es könne ausreichen, dass ein privater Träger eine Maßnahme des Vertragsnaturschutzes in eigener Verantwortung, aber auf der Grundlage eines hinreichend konkreten staatlichen Regelungskonzepts durchführt. Ein Regelungskonzept dieser Art enthalte der öffentlich-rechtliche Vertrag, von dessen Wirksamkeit im Rahmen der Revision des Vereins auszugehen sei. Dort würden dem Verein enge, verpflichtende Vorgaben für die Erprobung der Auswilderung gemacht. Die Einflussmöglichkeiten öffentlicher Stellen seien erheblich höher als bei einer schlichten Genehmigungserteilung. Bei einem engeren Verständnis von § 65 BNatSchG entstünde eine Schutzlücke, die mit dem Wiederansiedlungsziel des Bundesnaturschutzgesetzes und der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie unvereinbar wäre: weil die an sich streng geschützten Tiere in der Erprobungsphase (noch) nicht den artenschutzrechtlichen Zugriffsverboten unterfallen, könnten schon geringfügige Überschreitungen des Projektgebiets durch die Tiere dazu führen, dass das gesamte Projekt mit zivilrechtlichen Mitteln verhindert werden kann.

OLG muss erneut entscheiden

Zu der Duldungspflicht werde das Oberlandesgericht aber noch weitere Feststellungen treffen müssen. Sie setze nämlich voraus, dass die Nutzung des klägerischen Grundstücks nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der BGH wies allerdings darauf hin, dass die Duldungspflicht jedenfalls zeitlich begrenzt ist. Denn die Freisetzungsphase sei von vornherein auf einen begrenzten Zeitraum angelegt und dürfe nicht über Gebühr ausgedehnt werden. Sollte das Projekt beendet werden, endete eine etwaige Duldungspflicht des Klägers. In dem derzeitigen Stadium des Projekts werde die Inanspruchnahme des Grundeigentums des Klägers jedenfalls dann unverhältnismäßig und damit unzumutbar, wenn die Freisetzungsphase über die für die Erreichung der mit ihr verfolgten Zwecke erforderliche Zeit hinaus fortgesetzt werde. Schließlich werde das Oberlandesgericht gegebenenfalls weitere Feststellungen im Hinblick auf die von dem Kläger angezweifelte Wirksamkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrags treffen müssen.

BGH bejaht Schadensersatzanspruch

Soweit festgestellt worden ist, dass der Verein verpflichtet ist, dem Kläger in der Freisetzungsphase alle zukünftigen Schäden, die ihm durch die Wisente an den Bäumen zugefügt werden, zu ersetzen, ist die Revision zurückgewiesen worden. Sollte eine Duldungspflicht gemäß § 65 BNatSchG nicht bestehen, haftete der Beklagte für die durch die Wisente verursachten Baumschäden gemäß § 833 Satz 1 BGB. Die Feststellung wäre aber auch zu Recht erfolgt, wenn der Kläger zur Duldung verpflichtet sein sollte. Dann stünde ihm nämlich ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB analog gegen den Verein als Nutzer des benachbarten Projektgebiets zu.

BGH, Urteil vom 19.07.2019 - V ZR 177/17

Redaktion beck-aktuell, 19. Juli 2019.