BGH: Beweismaß bei haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität

ZPO §§ 139, 286, 287 I, 428, 559 II, 717 III 2; StVG §§ 7, 11; VVG § 115; BGB § 823 I

Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO findet nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs Anwendung, soweit es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte (haftungsausfüllende Kausalität). Werden unabhängig davon aus der zugrundeliegenden Verletzungshandlung weitere unfallursächliche Primärverletzungen geltend gemacht, unterfallen diese dem Beweismaß des § 286 ZPO (haftungsbegründende Kausalität).

BGH, Urteil vom 29.01.2019 - VI ZR 113/17 (OLG Frankfurt a. M.), BeckRS 2019, 7656

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 10/2019 vom 23.05.2019

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Sachverhalt

Der Kläger ist selbstständiger Geschäftsmann. Er fuhr mit seinem Pkw im vorfahrtsberechtigten Kreisverkehr. In diesen fuhr auch das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug ein und streifte das Klägerfahrzeug an der gesamten rechten Seite. Am Fahrzeug des Klägers entstand ein Schaden von über 18.000 EUR, den die Beklagte regulierte. Der Anspruchsgrund ist unstreitig, die Parteien streiten aber darüber, ob der Kläger bei diesem Unfall verletzt wurde.

Der fünf Tage später aufgesuchte Allgemeinarzt hatte eine HWS-Distorsion sowie einen Kniegelenkserguss und eine Außenmeniskusläsion am linken Kniegelenk festgestellt. Zwei Tage später war der Kläger beim Orthopäden, der eine HWS-Distorsion mit deutlicher Steilstellung der HWS festgestellt sowie einen eingeklemmten Innen- und Außenmeniskus diagnostiziert hatte. Wegen dieser Meniskusläsion begab sich der Kläger in eine radiologische Praxis, in der ein MRT des linken Knies durchgeführt wurde. Dieser Befund ergab degenerative Veränderungen und eine laterale Gonarthrose.

Der Radiologe stellte in seinem Bericht zudem fest, dass wegen des fehlenden Weichteilödems eine sichere Differenzierung zwischen alten und frischen Schädigungen nicht möglich sei. Er stellte eine Arbeitsunfähigkeit vom 08.10. bis 06.12. fest.

Für den Körperschaden macht der Kläger klageweise rund 48.000 EUR Verdienstausfall geltend, zudem ein Schmerzensgeld, das er in der Größenordnung von rund 3.000 EUR für angemessen erachtet.

Das Landgericht hatte nach Erholung eines Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Der Kläger legte Berufung ein, die ihm ein Schmerzensgeld von 600 EUR einbrachte. Er legte Revision ein, die Beklagte Anschlussrevision.

Rechtliche Wertung

Die Revision des Klägers wurde zurückgewiesen. Auf die Anschlussrevision der Beklagten wurde das Berufungsurteil insoweit aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

 Zurecht habe das OLG einen Schadenersatzanspruch des Klägers wegen der unfallursächlichen Knieschädigung verneint, meint der BGH. Das Gericht habe sich keine Überzeugung nach § 286 ZPO bilden können, dass der Kläger durch den Unfall auch eine Verletzung des linken Knies erlitten hatte. Zwischen haftungsbegründender und haftungsausfüllender Kausalität sei streng zu trennen. Bezüglich der Primärverletzung gelte das strenge Beweismaß. Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO gelte für aus der Primärverletzung heraus resultierende weitere Gesundheitsschäden (Sekundärschäden). Die HWS-Distorsion und die Knieschädigung müssten getrennt beurteilt werden.

Offensichtlich seien in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und der Literatur Missverständnisse aufgetreten über die bisherige Trennung dieser Beweismaßstäbe. Daher sei es geboten, eine Übersicht der seit dem Jahr 1972 getroffenen wesentlichen Entscheidungen des Senats zu erstellen und diese zu überprüfen. Die als wesentlich erachteten acht Entscheidungen listet der Senat auf.

Diesen Entscheidungen sei gemeinsam, dass die Anwendbarkeit des § 287 ZPO nur jeweils insoweit bejaht wurde, als es um die Frage ging, ob die haftungsbegründende Primärverletzung weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge gehabt hat.

Die Knieverletzung müsse also nach § 286 ZPO beurteilt werden und insoweit zeige die Revision keinen Sachvortrag auf, wonach die Knieschädigung auf die HWS-Distorsion zurückzuführen sein könnte. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung sei verfahrensfehlerfrei und halte sich an die Feststellungen des Sachverständigen. Einen Antrag, weitere konkret zu bezeichnende Behandlungsunterlagen vorzulegen (§ 428 ZPO), habe der Kläger nicht gestellt. Die Revision sei damit unbegründet.

Anders verhalte es sich mit der Anschlussrevision der Beklagten, so der BGH weiter. Der medizinische Sachverständige habe hier festgestellt, dass ein HWS-Beschleunigungstrauma «möglich» sei und vom Ergebnis eines noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens abhängig sei. Ein solches Gutachten habe der Berufungssenat nicht eingeholt. Dass ein «vergleichsweise heftiger Seitenaufprall» vorgelegen habe, mache die Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens nicht entbehrlich. Dass der Tatrichter ein besonderes Fachwissen habe, und dass er über dieses Fachwissen die Parteien aufgeklärt habe, sei nicht ersichtlich.

Der Gerichtssachverständige habe im Übrigen in diesem Zusammenhang auch aufgeführt, dass es sich um eine streifende seitliche Kollision und damit nicht um einen Mechanismus gehandelt habe, bei dem typischerweise HWS-Beschleunigungsverletzungen auftreten könnten. Dass schließlich, wie das Berufungsgericht gemeint hat, die Einnahme von Schmerzmitteln kein Indiz für eine HWS-Distorsion gewesen sei, begründe eine HWS-Distorsion nicht, denn der Kläger habe ja auch Schmerzen am linken Knie behauptet.

Praxishinweis

Die Entscheidung, die wir hier vorstellen, ist für die Praxis sehr wesentlich. Zwischen Primär- und Sekundärverletzungen wird häufig nicht unterschieden und die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität sind auch in den Einzelheiten häufig nicht bekannt. Sehr viele der im Urteil erwähnten Entscheidungen werden in der Praxis immer für das Gegenteil zitiert. Sehr hilfreich ist es daher, in diesem Urteil eine Auflistung wesentlicher Entscheidungen mit den zugrunde liegenden Sachverhalten präsentiert zu bekommen.

Redaktion beck-aktuell, 28. Mai 2019.