BGH: Anscheinsbeweis gegen Rückwärtsfahrenden bei Parkplatzunfall

StVG §§ 7 I, 17 I und II, 18 I 1; VVG § 115 I 1 Nr. 1; StVO §§ 1 II, 9 V; BGB § 254; ZPO § 286

Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, so spricht auch bei Parkplatzunfällen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nach § 1 StVO in Verbindung mit der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat. Dies gelte nicht, wenn zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere rückwärtsfahrende Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist.

BGH, Urteil vom 11.10.2016 - VI ZR 66/16 (LG Frankfurt/Oder), BeckRS 2016, 109941

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 1/2017 vom 19.01.2017

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Sachverhalt

Die Klägerin macht Ansprüche aus der Beschädigung ihres Fahrzeugs auf dem Parkplatz eines Baumarktes geltend. Der Beklagte fuhr auf dem Fahrweg zwischen zwei im rechten Winkel dazu angeordneten Parkbuchten vorwärts in eine aus seiner Fahrtrichtung gesehen rechts gelegene Bucht ein. Er legte dann den Rückwärtsgang ein, um in entgegengesetzter Richtung noch einmal aus der Parkbucht auszufahren. Die Klägerin befand sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Pkw, aus der gegenüberliegenden Parkbucht kommend, auf dem Fahrweg. Sie behauptet, sie sei erst angefahren, als der Beklagte vollständig in die Parkbucht eingefahren war und die Bremslichter an seinem Fahrzeug erloschen waren. Es kam zur Kollision.

Der Beklagte behauptet demgegenüber, er sei in «seine» Parkbucht gar nicht ganz eingefahren und habe dann den Rückwärtsgang eingelegt, um in entgegengesetzter Fahrtrichtung wieder auf den Fahrweg zu gelangen. Das Fahrzeug der Klägerin sei allenfalls den Bruchteil einer Sekunde vor der Kollision zum Stehen gekommen.

Vorgerichtlich wurde der Schaden der Klägerin auf der Basis 50:50 reguliert. Den weitergehenden Schaden begehrt sie erfolglos zunächst vor dem Amtsgericht. Auch in der Berufungsinstanz hatte sie keinen Erfolg. Dies änderte sich nun in der zugelassenen Revision. Das landgerichtliche Urteil wurde aufgehoben und die Sache ans Landgericht zurückverwiesen.

Rechtliche Wertung

Das Landgericht hatte ausgeführt, dass ein Anscheinsbeweis gegen den Beklagten streite, jedoch auch ein Anscheinsbeweis aus § 9 Abs. 5 StVO gegen die Klägerin wirke für ein von ihr zu vertretendes Verschulden.

Der BGH tritt dieser Auffassung entgegen. Er verweist zunächst auf seine beiden jüngsten «Parkplatz»-Entscheidungen vom 15.12.2015 (Az.: VI ZR 6/15, BeckRS 2016, 02712, Anmerkung Kääb in FD-StrVR 2016, 375919) und vom 26.01.2016 (Az.: VI ZR 179/15, BeckRS, 2016, 03382, Anmerkung Kääb in FD-StrVR 2016, 376235) und betont nochmals, dass die Bestimmung des § 9 Abs. 5 StVO auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter keine unmittelbare Anwendung finden kann.

Sie erlange mittelbare Bedeutung nur über § 1 StVO. Stehe fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignet habe, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spreche auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist.

Dagegen liege die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärtsfahrenden erforderliche Typizität des Geschehens regelmäßig dann nicht vor, wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten zwar feststehe, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren sei, aber zumindest nicht ausgeschlossen werden könne, dass sein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der Andere rückwärtsfahrend in dieses Fahrzeug hineinfuhr.

Das Berufungsgericht habe festgestellt, dass die Klägerin nach dem Zurücksetzen ihres Fahrzeugs «zum Stehen» gekommen war. Lediglich die Zeitspanne zwischen dem Erreichen des Stillstands und der Kollision habe das Berufungsgericht nicht feststellen können. Auf dieser tatsächlichen Grundlage stehe daher ein Anscheinsbeweis zu Lasten der Klägerin nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats.

Somit müsse die Sache vom Berufungsgericht erneut verhandelt werden, wobei der Senat darauf hinweist, dass entgegen der Auffassung der Revision die Anwendung des Anscheinsbeweises allein zu Lasten des Beklagten nicht notwendigerweise zu einer 100%igen Haftung des Beklagten für den Schaden der Klägerin führt. Vielmehr könnten die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin und weitere sie erhöhende Umstände im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG Berücksichtigung finden, was das Berufungsgericht zu prüfen habe.

Praxishinweis

Parkplatzunfälle sind ein täglich Brot des Verkehrsrechtlers. Die beiden erwähnten Entscheidungen des BGH aus den Jahren 2015 und 2016 zu Parkplatzunfällen hatten teilweise nicht zu einer vollständigen Klärung strittiger Fragen beigetragen. Mit dem jetzt vorliegenden Urteil sollte bei beiderseitigem Rückwärtsfahren auf Parkplätzen und dabei entstehenden Kollisionen «eigentlich» Klarheit herrschen. Nur wer zuerst stand, wird wohl auch weiterhin oft streitig bleiben.

Redaktion beck-aktuell, 26. Januar 2017.