BGH: Anfahrender auf Gegenfahrbahn ist auch «anderer Verkehrsteilnehmer»

StVG § 17; StVO §§ 9 V, 10 Satz 1

«Anderer Verkehrsteilnehmer» im Sinn der §§ 9 Abs. 510 Satz 1 StVO ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls auch derjenige, der auf der anderen Straßenseite vom Fahrbahnrand anfährt.

BGH, Urteil vom 15.05.2018 - VI ZR 231/17 (LG Heilbronn), BeckRS 2018, 14010

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 14/2018 vom 19.07.2018

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Straßenverkehrsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Straßenverkehrsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Straßenverkehrsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Die Klägerin hatte ihr Fahrzeug vorwärts auf einem rechtwinklig zur Fahrbahn angeordneten Parkplatz geparkt. Der Beklagte hatte sein Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrichtung abgestellt. Vor seinem Fahrzeug stand ein anderer Pkw. Die Klägerin parkte rückwärts in einem Linksbogen in der Absicht aus, sodann auf der Gegenfahrbahn in deren Fahrtrichtung weiter zu fahren. Dabei kollidierte sie mit dem Beklagten, der ebenfalls rückwärtsfuhr, um auszuparken. Im Zeitpunkt der Kollision befand sich das Beklagten-Fahrzeug noch in der Rückwärtsbewegung.

Vorgerichtlich wurde der Klägerschaden mit einem Drittel reguliert. Die Klägerin verlangt 100%. Vor dem Amtsgericht erreichte sie eine Haftungsquote von 50%. Sie legte erfolglos Berufung ein. Auch mit der zugelassenen Revision hat die Klägerin keinen Erfolg. In dem hier mitgeteilten Urteil wird das Rechtsmittel zurückgewiesen und es verbleibt bei der Schadenquote 50:50.

Rechtliche Wertung

Eine Entscheidung über eine Haftungsverteilung könne, so der BGH in dem hier vorgestellten Urteil, vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt wurden und die Abwägung nur rechtlich zulässige Erwägungen enthält. Danach seien die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.

Zu Recht sei es von einem Verstoß der Klägerin gegen § 9 Abs. 5 StVO und § 10 Satz 1 StVO ausgegangen. Zu diskutieren sei nur die Frage, ob der Verkehrsteilnehmer auf der anderen Straßenseite ein «anderer Verkehrsteilnehmer» im Sinn dieser Normen sei. Primär falle unter den Schutzbereich der beiden Normen der, der im fließenden Durchgangsverkehr fahre. Aber die Normen umfassten auch diejenigen, die auf der anderen Straßenseite Fahrmanöver durchführen, um vom Fahrbahnrand anzufahren. Gleichgültig sei dabei, ob sie in der Position, aus der sie ausparken, korrekt oder nicht korrekt gestanden hätten.

Der der Klägerin zu Last gelegte Verstoß gegen die besondere Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO und des § 10 Satz 1 StVO entfalle auch nicht deshalb, weil diesen beiden Normen ein atypisch grober Verkehrsverstoß des Beklagten gegenüberstehe. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts habe die Klägerin den Beklagten nämlich beim Einsteigen in sein Fahrzeug wahrgenommen und auch erkannt, dass dieser vor einer Weiterfahrt zunächst werde zurückfahren müssen. Gleichwohl sei sie selbst rückwärts in dessen Fahrbahn eingekreuzt.

Praxishinweis

Dass beim Ausparken beide spätere Unfallkontrahenten rückwärtsfahren und dabei kollidieren, ist eine relativ häufig anzutreffende Unfallsituation. Über den «anderen Verkehrsteilnehmer» herrschte indes Streit. Dieser Streit ist nun beseitigt. Jeder, der sich selbst verkehrserheblich verhält und in den Ablauf eines Verkehrsvorganges eingreift, unterfällt dem Schutz und der Last der Bestimmungen der §§ 9 und 10 StVO. Die Entscheidung ist für die Praxis von erheblicher Bedeutung.

Redaktion beck-aktuell, 26. Juli 2018.