Haarausfall (Alopezie) ist ein häufiges Phänomen mit unterschiedlichen Ursachen. Eine verbreitete Methode zur Behandlung ist die Haarwurzeltransplantation, die auch ein auf Haarausfall spezialisierter Facharzt für Chirurgie in seiner Praxis zur Behandlung hormonell bedingten, hereditären oder vernarbenden (durch eine Entzündung verursachte) Haarausfalls durchführte. Er stufte diese Transplantationen als umsatzsteuerfreie "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" (§ 4 Nr. 14 lit. a UStG) ein und erklärte deshalb für die Streitjahre 2010 bis 2012 90% seiner Umsätze als steuerfrei.
Das Finanzamt sah nach einer Außenprüfung allerdings nur die vom Chirurgen bei vernarbendem Haarausfall vorgenommenen Transplantationen als Heilbehandlungen an und erhöhte die Umsatzsteuer. Die Transplantationen bei den anderen Arten von Haarausfall hätten keinen therapeutischen Zweck, sondern erfolgten hauptsächlich aus kosmetischen Gründen. Denn sie dienten weder der Heilung noch der Behandlung der Ursachen des Haarausfalls. So sah es auch das FG.
Der Krankheitswert ist entscheidend
Erst die Revision des Chirurgen beim BFH hatte Erfolg und führte zur Zurückverweisung der Sache (Urteil vom 25.09.2024 - XI R 17/21). Der XI. Senat moniert ein zu enges Verständnis des therapeutischen Zwecks beim FG. Laut BFH kann ein therapeutischer Zweck auch dann gegeben sein, wenn eine Haarwurzeltransplantation nicht auf die Ursachen des Haarausfalls einwirkt, sondern lediglich ihre Folgen beseitigt. Maßgeblich sei, ob dem Haarausfall Krankheitswert zukommt. Das könne der Fall sein, wenn der Haarverlust schon für sich genommen Krankheitswert hat, entstellend wirkt oder Folgeerkrankungen, vor allem psychische Erkrankungen, nach sich zieht.
Dem Haarverlust sei aber nicht automatisch ab einem bestimmen Grad des Haarausfalls Krankheitswert beizumessen. Um eine Krankheit oder Gesundheitsstörung annehmen zu können, müsse "das Fehlen der Haare vielmehr als anormaler Zustand anzusehen sein, der den Betroffenen derart beeinträchtigt, dass er nach herrschender Auffassung einer medizinischen Behandlung bedarf".
Eine Krankheit bejaht der BFH danach bei der vernarbenden und auch bei der hereditären Alopezie. In diesen beiden Fällen bestehe eine tatsächliche Vermutung für die Behandlungsbedürftigkeit. Anders sieht der BFH das bei hormonell bedingtem Haarausfall. Denn anlagebedingter Haarausfall betreffe die Mehrheit der Menschen und sei normal. Hier sei vielmehr umgekehrt eine kosmetische Haarverpflanzung zu vermuten. Allerdings könne auch solcher Haarausfall Krankheitswert haben, wenn er im Einzelfall entstellend wirkt. In diesen Fällen muss der Chirurg nun nachweisen, dass es sich um Ausnahmefälle und damit um Heilbehandlungen handelte. Dazu müsse er eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorlegen.