Ehepaar soll rund 241.000 Euro Nachzahlungszinsen entrichten
Im Streitfall hatte das Finanzamt die von den Antragstellern, einem Ehepaar, für das Jahr 2009 zu entrichtende Einkommensteuer zunächst auf 159.139 Euro festgesetzt. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte es im November 2017 die Einkommensteuerfestsetzung auf 2.143.939 Euro. Nachzuzahlen war eine Steuer von 1.984.800 Euro. Das Finanzamt verlangte zudem in dem mit der Steuerfestsetzung verbundenen Zinsbescheid für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis zum 16.11.2017 Nachzahlungszinsen in Höhe von 240.831 Euro. Die Antragsteller begehrten die Aussetzung der Vollziehung des Zinsbescheids, da die Höhe der Zinsen von 0,5 Prozent für jeden Monat verfassungswidrig sei. Das Finanzamt und das Finanzgericht lehnten dies ab. Anschließend legten die Antragsteller Beschwerde ein.
BFH: Zinssatz von sechs Prozent realitätsfern und gleichheitswidrig
Die Beschwerde hatte Erfolg. Der BFH hat dem Antrag stattgegeben und die Vollziehung des Zinsbescheids in vollem Umfang ausgesetzt. Er äußert im Hinblick auf die Zinshöhe für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015 schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Die Bemessung des Zinssatzes sei realitätsfern und verletze den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Der gesetzlich festgelegte Zinssatz überschreite den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität erheblich, da sich im Streitzeitraum ein niedriges Marktzinsniveaus strukturell und nachhaltig verfestigt habe.
Verwaltungsvereinfachung kein Rechtfertigungsgrund mehr
Laut BFH gibt es für die gesetzliche Zinshöhe bei der gebotenen summarischen Prüfung keine sachliche Rechtfertigung. Auf Grund des Einsatzes moderner Datenverarbeitungstechnik in der Steuerverwaltung könnten Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz im Sinne des § 247 BGB nicht mehr entgegenstehen.
Ziel der Vorteilsabschöpfung wegen strukturellen Niedrigzinsniveaus nicht mehr sinnvoll
Für die Höhe des Zinssatzes fehle es an einer Begründung, so der BFH weiter. Der Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht bestehe darin, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhalte, dass er während der Dauer der Nichtentrichtung über eine Geldsumme verfügen könne. Dieses Ziel sei wegen des strukturellen Niedrigzinsniveaus im typischen Fall für den Streitzeitraum nicht erreichbar und trage damit die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe nicht.
Verhältnismäßigkeit zweifelhaft
Nach Ansicht des BFH bestehen außerdem schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Übermaßverbot entspricht. Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirke in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung.
Gesetzgeber trotz Kenntnis der Realitätsferne untätig geblieben
Im Rahmen der Interessenabwägung führt der BFH aus, dass der Gesetzgeber um die Notwendigkeit einer Anpassung des Zinssatzes gewusst habe, aber dennoch bis heute nichts getan habe, obwohl er vergleichbare Zinsregelungen in der Abgabenordnung und im Handelsgesetzbuch geändert habe. Dem BFH zufolge vereinnahmte der Fiskus in den letzten Jahren allein bei der steuerlichen Betriebsprüfung Nachzahlungszinsen von mehr als zwei Milliarden Euro.