AG Dresden: Anscheinsbeweis bei Kettenauffahrunfall

StVG §§ 7, 17; StVO § 4 I 1; VVG § 115 I 4

Fährt ein Fahrzeug von hinten auf ein anderes Fahrzeug auf, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende unaufmerksam oder zu dicht aufgefahren war. Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Fahrzeugteilnehmer jedoch nach Auffassung des Amtsgerichts Dresden nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat.

AG Dresden, Urteil vom 06.03.2017 - 115 C 7609/15, BeckRS 2017, 106881

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 8/2017 vom 27.04.2017

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Sachverhalt

Kläger und Beklagter fuhren im Kolonnenverkehr hintereinander, als es außerorts zu einem Kettenauffahrunfall kam. Die Geschwindigkeit der Kolonne lag bei etwa 50 km/h. Das Beklagtenfahrzeug wurde, weil auch die davor befindlichen Fahrzeuge bremsten, abgebremst. Der Kläger fuhr mit seinem Fahrzeug auf den Beklagten auf.

Die Klagepartei behauptet, dass ihr Fahrzeug mit etwa 50 km/h und einem Abstand von 25-30 Metern dem vorausfahrenden Beklagten nachgefolgt sei, als dieses Fahrzeug ungebremst auf das davor befindliche Fahrzeug aufgefahren sei. Damit habe der Kläger keinerlei Warnung durch ein Bremslicht erhalten. Die Beklagten bestreiten dies.

Rechtliche Wertung

Das Gericht vernahm Zeugen und erholte ein verkehrsanalytisches Sachverständigengutachten. Aus diesem ergab sich, dass das Beklagtenfahrzeug voll eingebremst mit etwa 26 km/h auf das davor befindliche Fahrzeug auffuhr und das Klägerfahrzeug mit etwa 38 km/h auf das Beklagtenfahrzeug aufprallte.

Beide Parteien hätten damit gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen. Auch sei die Betriebsgefahr beider Fahrzeuge etwa gleich hoch und daher komme eine Haftungsverteilung 50:50 in Betracht.

Praxishinweis

Wir stellen dieses Urteil vor, weil der hier behandelte Kettenunfall ja schon fast zum täglichen Brot eines Verkehrsrechtlers gehört. Übersehen wird häufig, dass verkehrsanalytische Sachverständige aus der Höhenlage der Schäden deutliche Schlüsse darauf ziehen können, ob ein Fahrzeug stand, bevor aufgefahren wurde oder ob es in Bewegung war und zuerst auffuhr, bevor es hinten nochmals zu einer Kollision kam. Die Verursachens- und Verschuldensanteile der beiden Parteien hat das Gericht sorgsam untersucht.

Redaktion beck-aktuell, 5. Mai 2017.