BGH: Wirksamwerden einer nicht zu verkündenden Entscheidung

ZPO §§ 329 II, 516 I, 543f, 565 S. 1

Die Nichtzulassungsbeschwerde kann ohne Zustimmung des Gegners zurückgenommen werden, solange der Zurückweisungsbeschluss die Geschäftsstelle noch nicht mit der unmittelbaren Zweckbestimmung verlassen hat, den Parteien bekannt gegeben zu werden (Fortführung von BGH, Beschluss vom 30. März 2006, III ZB 123/05, NJW 2006, 2124 Rn. 8). (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschluss vom 29.08.2017 - XI ZR 318/16, BeckRS 2017, 124946

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe 

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 19/2017 vom 29.09.2017

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Sachverhalt

Der Kläger und seine Ehefrau hatten ihre auf den Abschluss dreier Verbraucherdarlehensverträge gerichteten Willenserklärungen gut fünf Jahre später widerrufen und sich darauf berufen, dass die Widerrufsbelehrungen nicht ordnungsgemäß gewesen seien. Mit seiner auf eigenes Recht und auf abgetretenes Recht seiner Ehefrau gestützten Klage gegen die die Wirksamkeit des Widerrufs in Abrede stellende Sparkasse hat der Kläger verschiedene Feststellungen in Bezug auf die Darlehensverträge und die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten begehrt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Berufungsgericht nach Erteilung eines Hinweises durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen, weil die Beklagte den Kläger und seine Ehefrau zutreffend über ihr Widerrufsrecht belehrt habe.

Der Kläger hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und begründet. Der XI. Zivilsenat des BGH hat diese Nichtzulassungsbeschwerde für unbegründet gehalten, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe und die Fortbildung des Rechts sowie die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erforderten. Ein entsprechender, ausführlich begründeter Beschluss ist am 11.7.2017 gefasst und am Folgetag der – seinerzeit durch erheblichen Arbeitsanfall belasteten – Geschäftsstelle übergeben worden. Bevor die Geschäftsstelle weiteres veranlasst hatte, ist am 28.7.2017 ein Schriftsatz des Klägers eingegangen, mit dem dieser die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen hat.

Entscheidung

Der BGH hat daraufhin den Beschluss vom 11.7.2017 nicht mehr zugestellt (allerdings seinen vollständigen Wortlaut mitgeteilt!), sondern die gesetzlichen Folgen der Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde (§§ 522 III, 565 S. 1, 516 III ZPO) ausgesprochen. Der Beschluss vom 11.7.2017, der nach § 329 II ZPO nicht zu verkünden gewesen sei, sei nicht existent geworden. Er sei nicht bereits mit seiner Übergabe an die Geschäftsstelle erlassen gewesen. Zu seinem Erlass hätte es vielmehr der Hinausgabe aus dem inneren Geschäftsbetrieb bedurft. Hinausgegeben worden wäre der Beschluss erst zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Geschäftsstelle mit der unmittelbaren Zweckbestimmung verlassen hätte, den Parteien bekannt gegeben zu werden. Dies sei aufgrund des sonstigen ganz erheblichen Arbeitsanfalls bis zum Eingang der Rücknahmeerklärung nicht geschehen. Damit habe der Kläger die Rücknahme innerhalb der Frist der § 565 S. 1, § 516 I ZPO erklärt, die erst mit der Hinausgabe des Beschlusses vom 11.7.2017 aus dem inneren Geschäftsbetrieb als einer der Verkündung vergleichbaren Entäußerung – wenn auch nicht noch später mit seinem Wirksamwerden gegenüber den Parteien durch Zustellung gemäß § 544 IV 3 ZPO – geendet hätte.

Praxishinweis

Eine gerichtliche Entscheidung ist nicht bereits dann als solche existent und wirksam, wenn sie vom Richter bzw. dem Spruchkörper nach Maßgabe der §§ 192 ff GVG gefällt ist. Vielmehr wird sie erst dann existent (und damit – in Abgrenzung zu einem bloßen Entscheidungsentwurf – für das Gericht bindend), wenn sie "erlassen" ist, dh den inneren Bereich des Gerichts mit der unmittelbaren Zweckbestimmung verlassen hat, den Parteien bekannt gegeben zu werden (vgl. etwa BGH NJW-RR 2004, 1574 mwN); wirksam wird sie der Partei gegenüber, der sie angeht, erst dann, wenn sie ihr in der verfahrensrechtlich vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden ist (vgl. nur BGH NJW 2005, 3724 [3725] mwN). Für den Erlass gerichtlicher Entscheidungen sieht die ZPO drei unterschiedliche Formen vor (zu Erlassmängeln vgl. etwa BGH BeckRS 2016, 20153 mwN):

  • Die Verkündung in mündlicher Verhandlung (vgl. hierzu BGH NJW 2015, 2342 mAnm Kaiser NJW 2015, 2343 und Anm. Elzer FD-ZVR 2015, 369436) ist vorgeschrieben für Urteile (§ 310 I ZPO; Ausnahmen: § 310 III ZPO, s. sogleich) sowie für aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangene Beschlüsse (§ 329 I ZPO).
  • Ersetzt wird diese Verkündung durch Zustellung ("an Verkündungs statt") bei im schriftlichen (Vor-) Verfahren ergangenen Anerkenntnis- und Versäumnisurteilen sowie Urteilen, die einen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil oder einen Vollstreckungsbescheid nach § 341 II ZPO verwerfen (§ 310 III ZPO).
  • Im Übrigen (also bei allen nicht aufgrund einer mündlichen Verhandlung erlassenen Beschlüssen) genügt die im Grundsatz formlose Mitteilung an die Parteien (§ 329 II 1 ZPO; vgl. auch § 41 FamFG); allerdings ist für bestimmte Fälle die Zustellung als Mitteilungsform vorgeschrieben (vgl. insbes. §§ 329 II 2, 544 IV 3 ZPO).

Wann genau eine Entscheidung, die nicht verkündet (sondern an Verkündungs statt zugestellt oder – ggf. durch Zustellung – mitgeteilt) wird, rechtlich existent geworden ist, wird nicht einheitlich beantwortet: Teilweise wird auf die Vollendung des Zustellungs- bzw. Mitteilungsaktes abgestellt (vgl. etwa BGH NJW 2004, 2125 [2125]; Prütting/Gehrlein/Lemke, ZPO, 9. Aufl. 2017, § 516 Rn. 5), richtigerweise dürfte aber – als einer der Verkündung vergleichbaren Entäußerung – die Einleitung der Zustellung bzw. Mitteilung durch die Geschäftsstelle genügen (so außer der hier besprochenen Entscheidung etwa BGH NZM 2017, 147 Rn. 12 mwN). Bis zu diesem Zeitpunkt muss das Gericht noch Schriftsätze der Parteien und deren Prozesshandlungen beachten.

Redaktion beck-aktuell, 6. Oktober 2017.