BGH: Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung auf Parteiantrag

GG Art. 103 I; ZPO §§ 397, 402

1. Für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten ist, kommt es nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sieht oder ob ein solcher von einer Partei nachvollziehbar dargetan worden ist. Jede Partei hat einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann (§§ 397, 402 ZPO).

2. Hat das Erstgericht einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens nicht entsprochen, so muss das Berufungsgericht dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag stattgeben. (Leitsätze des Gerichts)

BGH, Beschluss vom 30.05.2017 - VI ZR 439/16, BeckRS 2017, 121826

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe 

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 17/2017 vom 01.09.2017

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Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach ärztlicher Behandlung in Anspruch. Das LG hat die Klage auf der Grundlage eines schriftlichen orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgutachtens samt Ergänzungsgutachten abgewiesen. Von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen hat das LG trotz entsprechenden Antrags der Klägerin abgesehen. Die Berufung der Klägerin hat das OLG im Beschlusswege (§ 522 II ZPO) zurückgewiesen. Eine Anhörung des Sachverständigen sei nicht erforderlich. Anhaltspunkte für eine Verwechslung der bei den Akten befindlichen intraoperativen Röntgenbilder oder für deren unzureichende Aussagekraft wegen Fehlens der zweiten Ebene bestünden entgegen der Auffassung der Klägerin nicht. Im Übrigen fehle es an einer haftungsbegründenden Kausalität, weil die Kniebeschwerden der Klägerin nicht auf die behaupteten Behandlungsfehler, sondern auf eine unabhängig hiervon vorliegende Fehlstellung und auf Verschleiß zurückzuführen seien. Die Revision hat das OLG nicht zugelassen.

Entscheidung

Auf die (der Sache nach auf Ansprüche aus einer von mehreren ärztlichen Behandlungen beschränkte) Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der BGH den Beschluss des OLG (im Umfang der Anfechtung) – wie von § 544 VII ZPO bei Vorliegen einer Gehörsverletzung als Zulassungs- und Revisionsgrund ermöglicht – sogleich aufgehoben und die Sache (im Umfang der Aufhebung) zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Klägerin sei durch die Zurückweisung ihres Antrags auf mündliche Anhörung des Sachverständigen in ihrem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) verletzt worden. Für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten sei, komme es nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sehe oder ob ein solcher von einer Partei nachvollziehbar dargetan worden sei. Vielmehr habe die Partei zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich halte, zur mündlichen Beantwortung vorlegen könne. Dieses Antragsrecht bestehe unabhängig von § 411 III ZPO. Habe das Erstgericht einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens nicht entsprochen, so müsse das Berufungsgericht dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag stattgeben. Dies zugrunde legend, reiche die Begründung des Berufungsgerichts, die schriftlichen Ausführungen des Gutachters ließen eine klare Beurteilung zu, für eine Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen nicht aus. Die Klägerin habe bereits im ersten Rechtszug die Anhörung des Sachverständigen beantragt. Darauf habe sie in ihrer Berufungsbegründung hingewiesen und den Antrag auf Anhörung des Sachverständigen wiederholt. Sie habe dabei und der Sache nach auch in ihrer Stellungnahme auf den Hinweis des Berufungsgerichts nach § 522 II 2 ZPO konkrete Gegenstände der Anhörung, insbesondere die Möglichkeit einer Verwechslung der intraoperativen Röntgenaufnahmen sowie die Frage von deren Geeignetheit trotz Fehlens einer zweiten Ebene benannt. Unter diesen Umständen habe das Berufungsgericht den Sachverständigen anhören müssen, um dem Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu genügen. Die Gehörsverletzung sei auch erheblich. Es könne – wie weiter ausgeführt wird – nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Anhörung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre.

Praxishinweis

Die Rechtslage ist eindeutig: Da die Partei zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf hat, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Erläuterung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann, ist ihrem Antrag auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens grundsätzlich zu entsprechen, auch wenn das Gericht das schriftliche Gutachten für überzeugend hält und selbst keinen weiteren Erläuterungsbedarf sieht; Beschränkungen des Antragsrechts können sich allenfalls aus dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs oder der Prozessverschleppung ergeben (vgl. BGH NJW-RR 2003, 208). Erstaunlich ist, dass – wie eine Vielzahl einschlägiger Entscheidungen des BGH belegt – Gerichte dies immer wieder verkennen.

Redaktion beck-aktuell, 4. September 2017.