OLG Karls­ru­he: Auf­he­bung eines Aus­lie­fe­rungs­haft­be­fehls auf­grund Eu­ro­päi­schen Haft­be­fehls aus Polen wegen der­zeit hoher Wahr­schein­lich­keit der Un­zu­läs­sig­keit

GRCh Art. 47; EUV Art. 2, 7 II; IRG 15 II

Der Aus­lie­fe­rungs­haft­be­fehl war auf­zu­he­ben, weil der­zeit eine hohe Wahr­schein­lich­keit be­steht, dass sich die Aus­lie­fe­rung des Ver­folg­ten nach Polen zum Zwe­cke der Straf­ver­fol­gung wegen der der­zei­ti­gen ak­tu­el­len Ent­wick­lun­gen in Polen im Rah­men der „Jus­tiz­re­form" als zu­min­dest der­zeit un­zu­läs­sig er­weist.

OLG Karls­ru­he, Be­schluss vom 17.02.2020 - Ausl 301 AR 156/19, BeckRS 2020, 1720

An­mer­kung von 
Rechts­an­wäl­tin Dr. Anna Oeh­mi­chen, Knie­rim & Kol­le­gen Rechts­an­wäl­te, Mainz

Aus beck-fach­dienst Straf­recht 06/2020 vom 19.03.2020

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Straf­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Straf­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Straf­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de.

Sach­ver­halt

Der Ver­folg­te (V) be­fin­det sich seit 4.12.2019 in Aus­lie­fe­rungs­haft auf­grund Aus­lie­fe­rungs­haft­be­fehls des Se­nats vom 2.12.2019. Grund­la­ge des­sel­ben ist ein Eu­ro­päi­scher Haft­be­fehl des Be­zirks­ge­richts in X./Polen vom 11.1.2016. V hat einer ver­ein­fach­ten Aus­lie­fe­rung bei sei­ner rich­ter­li­chen An­hö­rung am 4.12.2019 vor dem Amts­ge­richt Z./Deutsch­land nicht zu­ge­stimmt und sämt­li­che gegen ihn von den pol­ni­schen Jus­tiz­be­hör­den er­ho­be­nen Tat­vor­wür­fe in Ab­re­de ge­stellt. Er trug u.a. vor, seit 3 Jah­ren mit sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin in Deutsch­land zu leben. Die Ge­ne­ral­staats­an­walt­schaft (GenS­tA) Karls­ru­he hat am 6.12.2019 be­an­tragt, die Aus­lie­fe­rung des V nach Polen für zu­läs­sig zu er­klä­ren und ent­schie­den, dass nicht be­ab­sich­tigt sei, Be­wil­li­gungs­hin­der­nis­se gel­tend zu ma­chen. Mit Schrift­satz vom 16.1.2020 hat der Rechts­bei­stand des V vor­ge­tra­gen, eine Re­so­zia­li­sie­rung des V sei im deut­schen Straf­voll­zug eher als im pol­ni­schen Straf­voll­zug ge­währ­leis­tet. Auch hat er be­an­tragt, den Aus­lie­fe­rungs­haft­be­fehl außer Voll­zug zu set­zen. Im Hin­blick auf die­sen Vor­trag hat die GenS­tA Karls­ru­he er­gän­zend an­ge­kün­digt, ihre Aus­lie­fe­rungs­be­wil­li­gung nun­mehr mit einem Rück­über­stel­lungs­vor­be­halt ver­se­hen zu wol­len. Dem An­trag auf Au­ßer­voll­zug­set­zung ist sie je­doch ent­ge­gen­ge­tre­ten. Im Hin­blick auf die da­nach wei­ter be­kannt ge­wor­de­nen Er­eig­nis­se in Polen zur „Jus­tiz­re­form" hat der Senat am 27.1.2020 einen um­fang­rei­chen Hin­weis­be­schluss er­las­sen und V bzw. sei­nem Rechts­bei­stand sowie der GenS­tA Karls­ru­he Ge­le­gen­heit zur er­gän­zen­den wei­te­ren Stel­lung­nah­me ein­ge­räumt. In die­sem Hin­weis­be­schluss hat der Senat auf seine ei­ge­ne Rspr bzgl. Polen vom 7.1.2019, sowie die ver­gan­ge­ne und ak­tu­el­le Rspr des EuGH be­tref­fend Polen hin­ge­wie­sen. Hier­nach ist der Senat be­züg­lich Polen an­hand der da­mals vor­lie­gen­den In­for­ma­tio­nen be­reits vor einem Jahr davon aus­ge­gan­gen, dass die dort im Rah­men der Jus­tiz­re­form vor­ge­nom­me­nen Ver­än­de­run­gen durch­aus ge­eig­net seien, die Un­ab­hän­gig­keit der Jus­tiz zu be­ein­träch­ti­gen und damit den We­sens­ge­halt des Grund­rechts jedes Ver­folg­ten auf ein fai­res Ver­fah­ren an­zu­tas­ten, je­doch im da­ma­li­gen kon­kre­ten Fall keine An­halts­punk­te vor­ge­le­gen hät­ten, dass ge­ra­de der Ver­folg­te im Falle einer Über­ga­be einer sol­chen Rechts­ver­let­zung aus­ge­setzt sei. Nun­mehr habe der EuGH mit Ur­teil vom 5.11.2019 (C-192/18) nicht nur die Zwangs­pen­sio­nie­rung von Rich­tern in Polen für uni­ons­rechts­wid­rig er­klärt, son­dern vor allem auch am 19.11.2019 (C-585/18) ent­schie­den, dass das vor­le­gen­de Obers­te Ge­richt in Polen selbst klä­ren müsse, ob die dort neu ge­schaf­fe­ne Dis­zi­pli­nar­kam­mer un­ab­hän­gig sei. Sei dies nicht der Fall, fehle es u.a. an einem wirk­sa­men Rechts­be­helf, der durch Art. 47 GRCh ga­ran­tiert werde. Am 5.12.2019 habe der Obers­te pol­ni­sche Ge­richts­hof nun­mehr fest­ge­stellt, dass die Dis­zi­pli­nar­kam­mer nicht die An­for­de­run­gen des EU-Rechts an die rich­ter­li­che Un­ab­hän­gig­keit er­fül­le und daher kein un­ab­hän­gi­ges Ge­richt im Sinne des EU-Rechts und des na­tio­na­len Rechts dar­stel­le. Ein von der Re­gie­rung am 20.12.2019 vor­ge­leg­ter Ge­setz­ent­wurf, wel­cher eine we­sent­li­che Ver­schär­fung der Dis­zi­pli­nar­mög­lich­kei­ten gegen Rich­ter, Staats­an­wäl­te und Rechts­an­wäl­te vor­se­he, sei noch nicht in Ge­set­zes­kraft er­wach­sen. Über einen von der Kom­mis­si­on am 14.1.2020 be­an­trag­ten Er­lass einer einst­wei­li­gen Ver­fü­gung gegen Polen habe der EuGH noch nicht ent­schie­den. Der Rechts­bei­stand des V hat dar­auf­hin aus­ge­führt, in­fol­ge der pol­ni­schen Jus­tiz­re­form sei die Un­ab­hän­gig­keit der Ju­di­ka­ti­ve nicht mehr an­satz­wei­se ge­si­chert; das Grund­recht des V auf ein fai­res Ver­fah­ren sei in Polen schlicht nicht mehr ge­wahrt. Das vom pol­ni­schen Par­la­ment zur Ent­schei­dung des EuGH vom 19.11.2019 ver­ab­schie­de­te Ge­setz ist am 14.2.2020 in Kraft ge­tre­ten. Der Senat hat am 10.2.2020 die Über­set­zung des Ge­set­zes an­ge­ord­net, die am 17.2.2020 ein­ge­gan­gen ist.

Ent­schei­dung

Der Senat ging aus­führ­lich auf die der­zeit be­stehen­den Rechts­ent­wick­lun­gen so­wohl in Polen als auch mit Blick auf die Rspr. des EuGH und die an­ge­streng­ten Rechts­staats­ver­fah­ren der Kom­mis­si­on ein. Da sich V auf das Vor­han­den­sein sys­te­mi­scher Män­gel, wel­che ge­eig­net seien, die Un­ab­hän­gig­keit der Jus­tiz im Aus­stel­lungs­mit­glied­staat zu be­ein­träch­ti­gen und damit den We­sens­ge­halt sei­nes Grund­rechts auf ein fai­res Ver­fah­ren an­zu­tas­ten, be­ru­fen hatte, war der Senat auch zur Prü­fung be­rech­tigt, ob eine echte Ge­fahr be­stand, dass V eine Ver­let­zung des ge­nann­ten Grund­rechts er­lei­de. In­so­weit be­durf­te es aus Sicht des Se­na­tes nicht nur wei­te­rer er­gän­zen­der In­for­ma­tio­nen über den Ver­fah­rens­stand durch die aus­stel­len­de Jus­tiz­be­hör­de, son­dern auch nä­he­rer In­for­ma­tio­nen über die im Rah­men der Jus­tiz­re­form dro­hen­den Sank­tio­nen gegen Rich­ter und Staats­an­wäl­te, zu deren Er­tei­lung le­dig­lich das Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um der Re­pu­blik Polen in der Lage sein dürf­te. Daher bat der Senat mit einem drei­sei­ti­gen Fra­ge­ka­ta­log um er­gän­zen­de In­for­ma­tio­nen. Zu­gleich hob er den Aus­lie­fe­rungs­haft­be­fehl auf, weil der­zeit eine hohe Wahr­schein­lich­keit be­stehe, dass sich die Aus­lie­fe­rung des V nach Polen zum Zwe­cke der Straf­ver­fol­gung wegen der der­zei­ti­gen ak­tu­el­len Ent­wick­lun­gen in Polen im Rah­men der „Jus­tiz­re­form" als zu­min­dest der­zeit un­zu­läs­sig er­wei­se. In­so­weit be­stün­den tat­säch­li­che An­halts­punk­te, dass V im Falle sei­ner Aus­lie­fe­rung einer ech­ten Ge­fahr der Ver­let­zung sei­nes Rechts auf ein fai­res Ver­fah­ren aus­ge­setzt sein würde, so dass be­züg­lich V die Vor­aus­set­zun­gen für eine Aus­lie­fe­rung nach Polen zur Straf­ver­fol­gung bei der­zei­ti­ger Sach- und Rechts­la­ge nicht mehr ge­ge­ben wären. Soll­ten pol­ni­sche Straf­rich­ter al­lein auf­grund der von ihnen vor­ge­nom­me­nen Wür­di­gung von Be­wei­sen in einem Straf­ver­fah­ren mit dis­zi­pli­na­ri­schen Sank­tio­nen rech­nen müs­sen, wären sie nicht voll­kom­men un­ab­hän­gig, so dass nicht mehr von einem fai­ren Ver­fah­ren die Rede sein könn­te.

Pra­xis­hin­weis

Die um­fang­rei­che und le­sens­wer­te Ent­schei­dung setzt sich in wohl bei­spiel­lo­ser Tiefe mit der ak­tu­el­len Rechts­la­ge in Polen aus­ein­an­der. Sie be­trifft den Be­reich der Straf­ver­fol­gung in einem Fall, in wel­chem sich die feh­len­de Un­ab­hän­gig­keit der pol­ni­schen Rich­ter­schaft auf die Ent­schei­dung des Rich­ters aus­wir­ken kann. Für die Pra­xis von Be­deu­tung ist zudem, dass nach An­sicht des Se­nats eine Prü­fung des Fair-Trial-Grund­sat­zes nur an­ge­zeigt ist, wenn der Ver­folg­te eine ihm dro­hen­de Rechts­ver­let­zung auch selbst (sub­stan­ti­iert) gel­tend macht (vgl. auch EuGH, 25.7.2018 – C-216/18, Rn. 60; BVerfG, 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 50 ff.). Mit dem aus­führ­li­chen Hin­weis­be­schluss hat das OLG beide Par­tei­en über die et­waig dro­hen­den Rechts­ver­let­zun­gen in Kennt­nis ge­setzt; wären diese aber vom Bei­stand nicht gel­tend ge­macht wor­den, wäre es zur Prü­fung nicht be­rech­tigt ge­we­sen, so dass die Ent­schei­dung dann mög­li­cher­wei­se an­ders aus­ge­fal­len wäre (s. auch betr. einer zu­läs­si­gen Aus­lie­fe­rung nach Polen OLG Bran­den­burg, BeckRS 2020, 1541 sowie BeckRS 2020, 1078).

Redaktion beck-aktuell, 23. März 2020.

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