AG Dortmund: Eingeschränkter Beweiswert des Wiedererkennens bei Recherche des Zeugen nach dem Täter im Internet und kein Beleidigungscharakter der Formulierung «Verpisst euch»

StPO § 58; StGB § 185

1. Eine von einem Zeugen im Vorfeld in Augenschein genommene Lichtbildreihe im Internet entspricht „naturgemäß“ keiner Wahllichtbildvorlage.

2. „Verpisst euch" ist ein „Umgangston“, der - obgleich „höchst unerfreulich“ - „tragbares Umgangsdeutsch“ darstellt.

AG Dortmund, Urteil vom 04.02.2020 - 767 LS-600 Js 445/19-5/20, BeckRS 2020, 1886

Anmerkung von 
Prof. Dr. Annika Dießner, HWR Berlin und Of Counsel der Kanzlei Rechtsanwälte Ignor & Partner, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 05/2020 vom 05.03.2020

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Sachverhalt

A wird dem rechten Spektrum zugeordnet. Ihm wird in der Anklageschrift vorgeworfen, gegen 22:50 Uhr eine Gruppe von drei ihm zuvor unbekannten Personen an einer Haltestelle gemeinsam mit dem gesondert Verfolgten B durch mehrere Äußerungen beleidigt zu haben. A selbst soll in diesem Zusammenhang sinngemäß zu den Zeugen geäußert haben: „Verpisst euch."

A schweigt zu den Tatvorwürfen und lässt über seinen Verteidiger erklären, er sei nicht am Tatort gewesen. Dies könne auch bewiesen werden, denn A sei in einer „Gefährderdatei" registriert, weshalb eine dauerhafte Funkzellenkontrolle seines Mobiltelefons stattfinde. Mittels der auf diese Weise erhobenen Daten könne bewiesen werden, dass er sich zur Tatzeit nicht am Tatort aufgehalten habe. Die drei Zeugen, die ausweislich der Anklage beleidigt worden sein sollen und sich selbst nicht dem „linksradikalen Milieu" zuordnen, haben den ihnen bis dato unbekannten A „ziemlich sicher"/ „zu 80-90% sicher" als Täter wiedererkannt, allerdings deutlich gemacht, dass der gesondert verfolgte B ihnen viel eindringlicher im Gedächtnis geblieben sei.

Bei der Abfahrt ihres Zuges hätten sie eine Person C auf den Bahnhof gehen sehen, die eine Baumwolltasche der D-Partei getragen habe. Einer der Zeugen habe tags darauf im Internet nach der Partei gesucht und sei auf eine Seite der „Antifa" gestoßen, die wiederum auf eine inzwischen verbotene (und vom Gericht nicht mehr zu überprüfende) verbotene Seite des „linken politischen Spektrums" verwiesen habe, auf der die Parteimitglieder abgebildet gewesen seien. Diese Bilder, so der Zeuge, habe er an die anderen beiden Zeugen weitergeleitet. Auf der Seite habe er „sofort" den C wiedererkannt (dort als „SS-C" bezeichnet). Unmittelbar unter dem Foto des C sei das Foto des A aufgeführt gewesen.

Entscheidung

Das AG spricht A aus tatsächlichen Gründen frei, weil nicht auszuschließen sei, dass eine andere Person als A gemeinsam mit B vor Ort gewesen sei. Die von den Zeugen im Vorfeld der Verhandlung in Augenschein genommene Lichtbildreihe im Internet - die das Gericht nicht zu prüfen vermochte - entspreche „naturgemäß" keiner Wahllichtbildvorlage. Vielmehr sei klar, dass alle abgebildeten Personen auf der Seite dem Lager der D-Partei zuzuordnen seien. Die Positionierung des Fotos des A direkt unter „SS-C" könnte beim Wiederkennen suggestive Wirkung entfaltet haben. Die Zeugen hätten nicht anzugeben vermocht, woher sie den „Wahrscheinlichkeitsschluss" auf A als Täter ziehen.

In einem obiter dictum geht das Gericht sodann auf die Frage des beleidigenden Charakters der Formulierung „Verpisst euch" ein. Es erklärt die Formulierung nach einer Internetrecherche als gerichtsbekannt im Sinne von „Verschwindet! Geht weg! Haut ab!" und zitiert u.a. sowohl ein Lied von Udo Lindenberg aus dem Jahr 1992 („Panik Panther"), in dem es heißt: „Faschos verpisst euch", als auch ein Wahlplakat der Berliner CDU, das sich an Drogendealer richtete mit der Botschaft: „Verpisst euch! Wir klauen euren Scheiß aus euren Verstecken! Haut ab!" Hieraus folgert das Gericht, dass solche „Umgangstöne" - obgleich aus seiner Sicht „höchst unerfreulich" - offenbar „tragbares Umgangsdeutsch" darstellten.

Praxishinweis

Mancher Fan wird zufrieden zur Kenntnis genommen haben, dass Udo Lindenberg es endlich auch zur Autorität bei der Auslegung juristischer Fragen gebracht hat. Weniger gefallen dürfte dem Künstler freilich, dass sein Oeuvre vorliegend zur Begründung der Straflosigkeit der Äußerung einer Person des rechten Spektrums herangezogen wird. Gleiches dürfte für die Berliner CDU gelten. Ob das Gericht auch Textpassagen von Bushido und Slogans der AFD zur Begründung der Straflosigkeit von Schmähungen herangezogen hätte? Statt Liedtexte oder Wahlkampfslogans zu recherchieren, hätte es gut daran getan, juristische Datenbanken zur Frage der Strafbarkeit der Äußerung „Verpisst euch" zu konsultieren (dazu jedenfalls mittelbar KG Berlin, Beschl. v. 12.10.2018 – 3 Ws (B) 250/18, juris).

Neben dieser Passage des Urteils des Amtsgerichts Dortmund, die eher kabarettistische Züge trägt, enthält die Entscheidung einen interessanten und praxisrelevanten strafprozessualen Aspekt: Wie wirkt es sich aus, wenn Zeugen - die andernfalls häufig gar nicht Strafanzeige erstattet hätten - im unmittelbaren Nachgang zum Tatgeschehen im Internet Erkundigungen über den potentiellen Täter einholen? Dass bei einer Wahllichtbildvorlage gewisse Vorgaben zu beachten sind, um Falschbezichtigungen nach Möglichkeit auszuschließen, entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. BGH NJW 2012, 791). Freilich mutet es unter Aufklärungsgesichtspunkten spekulativ an, einer „Fotogalerie" auf einer Internetseite suggestive Wirkung beizumessen, die selbst gar nicht unmittelbar Gegenstand der Beweisaufnahme gewesen ist. Erst durch eine Inaugenscheinnahme dieser „Galerie" hätte geklärt werden können, ob, wie vom Gericht behauptet, tatsächlich nur Angehörige der betreffenden Partei abgebildet waren, um wie viele abgebildete Personen es sich handelte und ob die angenommene suggestive Wirkung der Nähe des Lichtbildes von „SS-C" zum Foto des A wirklich bestand. Letztlich scheint die Überzeugungsbildung des Gerichts aber am sonstigen Inhalt der Aussage der Zeugen in der Hauptverhandlung gescheitert zu sein. Da offenbar nicht auszuschließen war, dass die Zeugen sich an die Bilder in der „Galerie" und nicht an die Geschehnisse am Tatabend erinnerten (sogenanntes wiederholtes Wiedererkennen; vgl. dazu z.B. BeckOK StPO/Huber, StPO § 58 Rn. 11 m.w.N.), und sie ansonsten nichts aus ihrer Erinnerung zur Person des zweiten Täters anzugeben vermochten, kam den Aussagen offenbar kein Beweiswert zu, der die Überzeugung, A habe die in Rede stehende Äußerung getätigt, zu tragen vermochte. Die von A behauptete (gefahrenabwehrrechtliche) Funkdatenanalyse hätte wohl wenig mehr zur Sachaufklärung beitragen können, zumal A offenbar Kenntnis von dem Umstand hatte und das Mobiltelefon womöglich mit Bedacht an einem anderen Ort verwahrt haben könnte.

Was folgt nun aus der Entscheidung für den Zeugenbeistand oder Nebenklagevertreter eines Zeugen? Zunächst sollte man seinen Mandanten eindringlich davor warnen, sich suggestiven Einflüssen wie Internetseiten (seien es Bildergalerien oder Presseberichte) auszusetzen, um ein „echtes" Wiedererkennen - sei es bei der Polizei oder im Gerichtssaal - zu ermöglichen. Das ist freilich in der Praxis leichter gesagt als getan. Hat der Zeuge bereits Recherchen angestellt, sollte man sich als Zeugenbeistand um größtmögliche Transparenz bemühen und die Dateien, anhand der Zeuge sich eine Überzeugung von der Identität des vermeintlichen Täters verschafft hat, nach Möglichkeit sichern.

Redaktion beck-aktuell, 10. März 2020.