LG Berlin: Politiker müssen sich auch «sehr weit überzogene Kritik» gefallen lassen

GG Art. 5 I; StGB § 185; TMG § 14 III TMG; NetzDG § 1 III

Zur Beurteilung der Frage, ob eine Äußerung gegenüber einer Politikerin eine Schmähkritik darstellt, ist zu prüfen, ob die Äußerung einen Sachbezug aufweist. Wird dies bejaht, so können auch die Äußerungen „Stück Scheisse" und „Drecks Fotze" eine zulässige Meinungsäußerung darstellen, wobei sich letztere „haarscharf an der Grenze des noch hinnehmbaren" bewegt.

LG Berlin, Beschluss vom 09.09.2019 - 27 AR 17/19, BeckRS 2019, 21753

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Dr. Saleh R. Ihwas, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2019 vom 17.10.2019

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Sachverhalt

Die Antragstellerin (K), eine bekannte Politikerin, begehrte die Gestattung einer Auskunft über Daten mehrerer Nutzer der Internetplattform, die durch die Beteiligte (B) betrieben wird. Unbekannte hatten auf der Plattform diverse Äußerungen gepostet. Die Äußerungen nahmen Bezug auf einen Post, der seinerseits ein Foto und ein Zitat der K aus einem Bericht aus dem Jahr 2015 unter der Überschrift „Grünen-Politikerin K gerät in Erklärungsnot" aufgriff. Aufhänger dieses Artikels war eine Äußerung der K während einer Debatte im Jahr 1986. In dem hier maßgeblichen Absatz des Berichts hieß es: „Während eine grüne Abgeordnete über häusliche Gewalt spricht, stellt ein CDU-Abgeordneter die Zwischenfrage, wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern solle aufgehoben werden. Doch statt der Rednerin ruft, laut Protokoll, K dazwischen: ‚Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!' Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?" Hieraus hat der Post neben der Abbildung der K die Äußerungen gemacht „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt." Dieser Post wurde von mehreren Nutzern der Internetplattform u.a. mit Antworten wie „Drecks Fotze" und „Stück Scheisse" kommentiert. K argumentierte, dass ihr ein Anspruch auf Gestattung der Auskunft über die Daten derjenigen Nutzer zustehe, die die streitgegenständlichen Äußerungen ins Netz gestellt hätten, da die betreffenden Äußerungen die Tatbestände der §§ 185 ff. StGB erfüllen würden. B argumentierte, dass geltend gemachte Anspruch nicht bestehe. Es handele sich um Meinungsäußerungen.

Entscheidung: Politiker müssen in stärkerem Maße Kritik hinnehmen

Die Voraussetzungen des § 14 III TMG liegen nicht vor. Die Äußerungen stellen sich sämtlich als Meinungsäußerungen dar.

Eine Äußerung, die auf Werturteilen beruhe, könne sich als Tatsachenbehauptung erweisen, wenn und soweit bei dem Adressaten zugleich die Vorstellung von konkreten, in die Wertung eingekleideten Vorgängen hervorgerufen werde. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit würden verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft werde. Von einer Schmähung könne nicht ausgegangen werden, wenn die Äußerung in dem Kontext einer Sachauseinandersetzung stehe. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik erfordere damit regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung. Hiervon könne allenfalls ausnahmsweise abgesehen werden, wenn es sich um eine Äußerung handele, deren diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine und daher unabhängig von ihrem konkreten Kontext stets als persönlich diffamierende Schmähung aufgefasst werden müsse, wie dies möglicherweise bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter – etwa aus der Fäkalsprache – der Fall sein könne. Bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liege Schmähkritik nur ausnahmsweise vor; sie bleibe grundsätzlich auf die Privatfehde beschränkt. Nach diesen Grundsätzen gelte hier Folgendes: Die angegriffenen Äußerungen seien sämtlich Reaktionen auf den Post, den ein Dritter auf der von der B betriebenen Internetplattform eingestellt habe. Dieser Post zitiere einen von K getätigten Einwurf und würdige diesen so, wie er von der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Auch wenn K ihren Einwurf anders verstanden wissen wolle, werde der knappe, die Zwischenfrage des CDU-Abgeordneten korrigierende Einwurf von der Öffentlichkeit als Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der Landtagsfraktion der Grünen in NRW wahrgenommen. Solle aber die Ausübung von Sex mit Kindern nur noch dann unter Strafe gestellt werden, wenn Gewalt im Spiel sei, heiße dies zum einen, dass es gewaltfreien Sex mit Kindern gebe und, dass er ohne Ausübung von körperlicher und psychischer Gewalt toleriert werde. Nichts anderes drücke der zweite Halbsatz in dem Post „ist der Sex mit Kindern doch ganz ok" aus. K müsse sich daher die gesamte Äußerung des ersten Satzes des Posts zurechnen lassen. Bei den Reaktionen hierauf handele es sich sämtlich um zulässige Meinungsäußerungen. Sie seien zwar teilweise sehr polemisch und überspitzt und zudem sexistisch. K selbst habe sich aber mit ihrem Zwischenruf, den sie bislang nicht öffentlich revidiert oder klargestellt habe, zu einer die Öffentlichkeit in ganz erheblichem Maße berührenden Frage geäußert und damit Widerstand aus der Bevölkerung provoziert. Zudem müsse sie als Politikerin in stärkerem Maße Kritik hinnehmen. Da alle Kommentare einen Sachbezug hätten, handele es sich nicht um Diffamierungen der Person der K und damit nicht um Beleidigungen nach § 185 StGB. Im Einzelnen gilt Folgendes: Soweit K geltend mache, es liege mit „Stück Scheisse" und „Geisteskranke" eine Formalbeleidigung vor, stehe dem entgegen, dass wie sich aus dem zweiten Satz ergebe eine Auseinandersetzung in der Sache erfolge, so dass eine Formalbeleidigung ausscheide. Der Kommentar „Drecks Fotze" bewege sich haarscharf an der Grenze des von K noch hinnehmbaren. Weil das Thema, mit dem sie vor vielen Jahren durch ihren Zwischenruf an die Öffentlichkeit gegangen sei sich ebenfalls im sexuellen Bereich befinde und die damals von ihr durch den Zwischenruf aus der Sicht der Öffentlichkeit zumindest nicht kritisierte Forderung der Entpönalisierung des gewaltfreien Geschlechtsverkehrs mit Kindern erhebliches Empörungspotential in der Gesellschaft habe, sei die Kammer jedoch der Ansicht, dass K als Politikerin sich auch sehr weit überzogene Kritik gefallen lassen müsse. Dass mit der Aussage allein eine Diffamierung der K beabsichtigt sei, ohne Sachbezug zu der im kommentierten Post wiedergegebenen Äußerung sei nicht feststellbar.

Praxishinweis

Die Politikerin ging in zwei Verfahren gegen die in Sozialen Medien verbreiteten Äußerungen vor (vgl. zum zweiten Verfahren LG Berlin BeckRS 2019, 21752) und war in beiden Verfahren unterlegen. Die Beschlüsse des LG sind wohl als eine Reaktion auf die (jüngsten) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen (vgl. etwa BVerfG BeckRS 2019, 4023; BeckRS 2019, 15126), wonach eine Schmähkritik bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen soll. Das BVerfG hat den Anwendungsbereich der Schmähkritik in diesen Entscheidungen sehr eng vorgegeben. Vor dem Hintergrund der hier nur im Überblick dargestellten Beschimpfungen wird man allerdings gut vertreten können, dass in diesem Fall ausnahmsweise eine Schmähkritik angenommen werden kann; dies gilt insbesondere weil Schimpfwörter aus der Fäkalsprache verwendet werden. Zwar handelt es sich um eine im öffentlichen Leben stehende Politikerin, einer Politikerin aber jeglichen Schutz vor solch gravierenden Äußerungen abzusprechen, ist im Ergebnis wenig überzeugend. Selbst wenn man in den vorgenannten Ausdrücken keine Schmähkritik erblicken möchte, wird man jedenfalls im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen dazu kommen, dass auch eine Politikerin sich einen solchen „Shitstorm" nicht mehr gefallen lassen muss. So wird bei der Abwägung insbesondere zu berücksichtigen sein, dass die Politikerin hier in einem frei für jedermann zugänglichen Raum mit gravierenden Beschimpfungen regelrecht überzogen wurde (vgl. zu Beschimpfungen einer Staatsanwältin gegenüber der Presse: BVerfG BeckRS 2016, 49376). Unter anderem dieser Aspekt wurde durch das LG nicht hinreichend berücksichtigt.

Die Politikerin hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt. Sollte sie vor dem Kammergericht obsiegen, dürfte auch eine kürzlich ergangene Entscheidung des EuGH relevant werden, wonach Plattformbetreiber dazu verpflichtet werden können, beleidigende Postings weltweit zu suchen und zu löschen (EuGH, Urt. v. 3.10.2019 - C-18/18). Dem EuGH-Urteil liegt ein Verfahren aus Österreich zu Grunde, wo sich eine gegen Beschimpfungen auf Facebook, wie z.B. „miese Volksverräterin", gewehrt hat (vgl. zur Vorlage an den EuGH: OGH Wien BeckRS 2017, 138184).

Redaktion beck-aktuell, 21. Oktober 2019.