LSG Hamburg: Pflegekräfte in ambulantem Pflegedienst sind Arbeitnehmer

SGB IV §§ 7, 7a; SGB XI §§ 71 ff., 113a

Die regulatorischen Vorgaben, unter denen ambulante Pflegeleistungen für den konkret betreuten Patienten zu erbringen sind, bedingen im Regelfall die Eingliederung aller eingesetzten Pflegekräfte in die Organisations- und Weisungsstruktur des Pflegedienstes, der den pflegerischen Auftrag übernommen hat. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Hamburg, Urteil vom 24.09.2019 - L 3 R 14/18, BeckRS 2019, 31188

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 25/2019 vom 20.12.2019

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Sachverhalt

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens über die Sozialversicherungspflicht der Klägerin, die in der ambulanten Pflege für die Beigeladene tätig war.

Die 1973 geborene Klägerin ist staatlich anerkannte Gesundheits- und Pflegeassistentin. Sie ist erfahren in der Pflege von Menschen mit hohem Pflegebedarf und verfügt u.a. über eine Zusatzqualifikation zur Betreuung von Patienten mit Tracheostoma mit Absaugung, Wundversorgung und Port-Versorgung. Die Klägerin machte sich im November 2012 selbständig und firmierte als „Pflege mit Fachwissen und Herz, Inh. B.“.

Die Beigeladene betreibt einen zugelassenen Pflegedienst. Zusätzlich zu den bei ihr beschäftigten Pflegekräften setzte sie im Jahre 2013 Kräfte ein, die sie als „freiberufliche Auftragnehmer“ bezeichnete und als Selbständige behandelte. Diese fand sie u.a. über eine Personalvermittlung im Gesundheitswesen. Auf deren Internetseite wurden die Gesuche der Beigeladenen unter der Rubrik „Auftraggeber finden“ veröffentlicht. Darin wurden jeweils der Einsatzzeitraum, die Einsatzzeit pro Tag, der Einsatzort nach Postleitzahl, die geforderte Qualifikation und die Vergütung aufgelistet. Die Klägerin schloss mit der Beigeladenen entsprechende Verträge ab, in denen sie als Freiberuflerin bezeichnet wurde und Dienste für bestimmte Zeiten, regelmäßig ein bis zwei Wochen, täglich an 12 Stunden übernahm. Die Vergütung sollte 25 bzw. 26 EUR pro Stunde betragen. Für Tätigkeiten im Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdienst war ein Zuschlag vereinbart. Eine Spesenerstattung war nicht vorgesehen.

Die Klägerin war ausschließlich bei einem Wachkomapatienten mit Absaugbedarf eingesetzt, den sie im Wechsel mit zwei weiteren Freiberuflern sowie zwei Beschäftigten der Beigeladenen rund um die Uhr in eigener Häuslichkeit betreute. Für den Patienten bestand eine private Pflegeversicherung. Er bzw. seine Ehefrau waren darüber informiert, dass die Klägerin als Freiberuflerin tätig war. Diese stimmte sich im Rahmen einer kurzen mündlichen Übergabe mit der übergebenden bzw. übernehmenden Pflegekraft ab. Die Klägerin kommunizierte mehrfach direkt mit dem behandelnden Arzt und der Apotheke, wobei sie sich nur mit der Ehefrau des Patienten abstimmte. Bei Notfällen rief sie den behandelnden Arzt hinzu und stieß letztlich – auch dies ohne vorherige Einschaltung der Beigeladenen – die erneute Unterbringung des Patienten im Krankenhaus an.

Auf den Antrag der Klägerin stellte die beklagte DRV gemäß § 7 a SGB IV fest, dass diese ihre Tätigkeit für die Beigeladene seit dem 04.06.2013 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt habe. Auch im ablehnenden Widerspruchsbescheid begründete dies die Beklagte damit, dass die Klägerin vertretungsweise Tätigkeiten übernommen habe, die normalerweise von den Beschäftigten der Beigeladenen ausgeübt wurden. Sie habe weder den Arbeitsort noch die konkrete Arbeitszeit wählen können. Die Tätigkeit sei im Übrigen am Pflegebedarf der zu pflegenden Person orientiert. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Tätigkeit habe die Klägerin sich an die vereinbarten Rahmenbedingungen und Absprachen sowie an die Gepflogenheiten der Beigeladenen gehalten. Ein unternehmerisches Risiko habe sie nicht getragen.

Auf die Klage hebt das SG Hamburg den Bescheid auf. Die Klägerin habe außerhalb des Sitzes der Beigeladenen eigenverantwortlich die ambulante Pflege des Patienten in dessen Häuslichkeit durchgeführt und sei auch nach außen hin als Selbständige aufgetreten. Sie habe am Markt für ihre Tätigkeit auch geworben. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten: Die Klägerin habe sich mit der Beigeladenen eng abstimmen müssen. Dies habe zwingend im Rahmen der Betriebsorganisation der Beigeladenen geschehen müssen, der die Verantwortung für das Qualitätsmanagement oblegen habe und die im Außenverhältnis für eventuelle Behandlungsfehler auch hafte.

Entscheidung

Das LSG hebt auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG auf und bestätigt die Feststellung einer Beschäftigung in den Zeiträumen, in denen die jeweilige Pflegetätigkeit tatsächlich durchgeführt wurde. Dazu nimmt das LSG ausdrücklich Bezug auf die neueste Rechtsprechung des BSG, nämlich die Urteile vom 04.06.2019 (BeckRS 2019, 12883), wonach „Honorarärzte“ in Krankenhäusern schon deshalb als Beschäftigte anzusehen sind, weil die Krankenhäuser sicherstellen müssen, dass die nicht festangestellten Ärzte die gleichen Anforderungen erfüllen wie festangestellte Ärzte. Dies setze einen maßgeblichen Einfluss des Krankenhauses voraus. Dementsprechend seien auch Pflegekräfte in stationären Pflegeeinrichtungen grundsätzlich abhängig beschäftigt, weil die verantwortliche Pflegekraft die Pflegeleistungen für jeden betreuten Pflegebedürftigen zumindest in den Grundzügen selbst festlegen müsse, ihre Durchführung zu organisieren habe und ihre Umsetzung angemessen kontrollieren muss. Dies macht eine Steuerung, Anleitung, Koordination und Kontrolle der Pflegeleistungen notwendig (BSG, a.a.O.).

Gleiches gilt für die ambulante Pflege. Denn auch die regulatorischen Vorgaben, unter denen die Beigeladene die ambulanten Pflegeleistungen für den konkret betreuten Patienten erbringen ließ, bedingen im Regelfall die Eingliederung aller eingesetzten Pflegekräfte in ihrer Organisations- und Weisungsstruktur. Das folgt aus § 71 SGB XI. Wie bei den Pflegeheimen muss die Pflege durch die Beigeladene unter ständiger Verantwortung einer Pflegekraft erfolgen. Die Beigeladene ist verpflichtet, einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln, wie es den Vereinbarungen nach § 113 SGB XI entspricht. Bei der Versorgung der betreuten Patienten sind die Expertenstandards nach § 113 a SGB XI zwingend anzuwenden. Im vorliegenden Fall tritt hinzu, dass die Pflege des konkret betreuten Patienten ein gesteigertes Maß an Organisation durch die Beigeladene verlangte. Diese musste, da eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung vereinbart war, mittels Dienstplänen einen Schichtbetrieb in der Wohnung des Patienten organisieren und aufrechterhalten. Sie hatte für die planmäßige Durchführung der Dienste Sorge zu tragen, denn der besondere Pflegebedarf des Patienten erforderte eine lückenlose Betreuung.

Innerhalb der durch die Dienstpläne vorgegebenen Struktur arbeitete die Klägerin arbeitsteilig mit den übrigen „Freiberuflern“ und den Beschäftigten der Beigeladenen zusammen. Dabei hatte sie keine ins Gewicht fallenden Freiheiten hinsichtlich Gestaltung und Umfang der Arbeitsleistung, die den entsprechend qualifizierten Beschäftigten der Beigeladenen zu 1. nicht ebenfalls zugestanden hätten. Dass die Klägerin, wie sie mehrfach betont hat, weder eine Einweisung noch pflegerische Vorgaben erhielt, war ihrer persönlichen Qualifikation und Erfahrung geschuldet, bestätigt aber nicht die Selbständigkeit. Der Senat kann ein „nennenswertes Unternehmerrisiko“ nicht erkennen. Der vereinbarte Stundensatz liegt auch nicht deutlich höher als derjenige der festangestellten Pflegekräfte. Außerdem hatte die Klägerin keine eigenen Angestellten.

Praxishinweis

1. Das LSG hat die Revision zugelassen. Es ist davon auszugehen, dass das Revisionsverfahren auch durchgeführt wird. Dies macht Sinn, nachdem das BSG in den Grundsatzurteilen zu den Pflegekräften in stationären Pflegeeinrichtungen (a.a.O..) ausdrücklich die Statusbeurteilung im ambulanten Pflegebereich offengelassen hatte.

2. Die ambulante Pflege ist nicht identisch mit der Pflege in der stationären Einrichtung: Die Pflege zuhause geschieht tatsächlich nicht unter der „Aufsicht“ des Pflegedienstes, sondern vielmehr unter der Aufsicht des zu Pflegenden und seiner Angehörigen selbst. Dieser Unterschied ist wichtig – auch was die Qualitätssicherung anlangt.

3. Vorliegend ging es offensichtlich um einen Patienten mit einem hohen Pflegegrad und außerordentlichem Pflegebedarf. Möglicherweise unterfällt er sogar dem Personenkreis, auf den aktuell die Politik mit einem gesonderten Intensivpflege-Gesetz reagieren möchte (vgl. Kaminski, GuP 2019, 201).

Die klagende Pflegekraft ist hier möglicherweise nicht nur im Rahmen des SGB XI, sondern auch im Rahmen der häuslichen Krankenpflege gemäß § 37 SGB V tätig geworden, also ihrerseits als „Behandelnde“ i.S.d. § 630a BGB, weil sie auch am medizinischen Behandlungsprozess teilnimmt. Dann taucht die Frage auf, ob diese Tätigkeit nicht die Rentenversicherungspflicht gemäß § 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI auslöst. Die Anerkennung als Selbständige, verbunden mit einer eigenen Rentenversicherungspflicht korrespondiert dann auch mit einer entsprechend höheren Verantwortung. Die Pflegebranche betont aktuell diese höhere Verantwortung einerseits durch eine Reform der Ausbildung verbunden mit der spezifischen Weiterbildungsqualifikation und andererseits mit der Schaffung einer funktionalen Selbstverwaltung in Form der Pflegekammern.

Diese Expertise (dazu schon Plagemann/Schafhausen, ArbRAktuell 2016, 414 ff., 440 ff.) sollte nicht als „Schlupfloch“ für Scheinselbständigkeit missverstanden werden, sondern hat etwas mit der gesellschaftlichen Bewertung von Pflege zutun (vgl. dazu aus medizinphilosophischer Sicht: Cornelius Bork, Medizinphilosophie, Zur Einführung, 2016, S. 202: „Logic of Care“; Giovanni Mario, Werte für die Medizin, 2018, S. 58 ff.).

Redaktion beck-aktuell, 23. Dezember 2019.