BSG: Unfallversicherungsschutz für ein Frühgeborenes

RVO § 539 I Nr. 17a; SGB VII § 2 I Nr. 15a

1. Eine Person, der eine stationäre Krankenhaus-Behandlung zu Lasten ihrer Krankenkasse gewährt wird, gehört zum versicherten Personenkreis nach § 539 Abs. 1 Nr. 17a RVO, § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII.

2. Bei einem im Brutkasten liegenden Frühgeborenen ist keine Verrichtung im Krankenhaus denkbar, die nicht unter den Versicherungstatbestand fällt.

3. Gesundheitsschäden, die allein wesentlich durch eine fehlerhafte medizinische Behandlung verursacht werden, sind nicht Gegenstand des (Unfall-)Versicherungsschutzes gem. § 539 Abs.1 Nr.17a RVO bzw. § 2 Abs.1 Nr. 15 a SGB VII. Der Behandlungsfehler muss jedoch dargelegt und bewiesen werden. (Leitsätze des Verfassers)

BSG, Urteil vom 07.05.2019 - B 2 U 34/17 R, BeckRS 2019, 24209

Anmerkung von
Jan Rabe, cand. Jur. Bucerius Law School, Hamburg für Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 22/2019 vom 07.11.2019

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Sachverhalt

Die Klägerin hat sich als Frühgeborenes im Jahr 1992 im Krankenhaus mit Krankenhauskeimen infiziert, was zu einer Meningitis führte. Sie wollte diese Infektion als Arbeitsunfall anerkennen lassen.

Dieses Ersuchen wurde im Jahr 2003 abgelehnt, ebenso wie die Berufung und folgende Nichtzulassungsbeschwerde. Ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X und Klagen vor dem Sozialgericht und Landessozialgericht waren erfolglos.

Entscheidung

Die Vorinstanz (LSG Nordrhein-Westfalen, BeckRS 2017, 131138) führte aus, dass Unfälle, die allein wesentlich durch eine fehlerhafte Behandlung eines Arztes oder eines Therapeuten verursacht werden, keine Arbeitsunfälle seien. Hier stelle nicht die Verrichtung der Tätigkeit des Versicherten, sondern die Behandlung den wesentlichen Grund für den Unfall dar, vgl. BSG, NZS 2011, 313.

Das BSG bestätigte die Erwägungen, gab aber dennoch der Klage statt. Die Klägerin sei als gesetzlich Krankenversicherte grundsätzlich unfallversichert, § 539 Abs. 1 Nr. 17a RVO. Versichert sei jede denkbare Verrichtung des Frühgeborenen bei der Entgegennahme der Behandlung im Krankenhaus. Außerdem habe es sich wegen der von außen auf das Baby einwirkenden Keime um einen Unfall gehandelt.

Auch die Unfallkausalität bejahten die Richter. Die Vorinstanz hatte noch ausgeführt, dass eine Verursachung der Infektion durch die bloße Anwesenheit der Klägerin in der Klinik verneint werden müsse, wenn der konkrete Kontakt mit dem Keim und die dadurch verursachte Infektion nicht festgestellt werden könnten. Die Infektion sei wahrscheinlich wesentlich durch fehlerhafte ärztliche Behandlung verursacht worden.

Das BSG sieht das anders: die fehlerhafte Behandlung war nicht festgestellt. Die Möglichkeit eines ärztlichen oder sonstigen Behandlungsfehlers müsse dargelegt und bewiesen werden. Hierbei liege die Beweislast für die Konkurrenzursache bei der Beklagten. Damit bleibe die passive Entgegennahme der Behandlung wesentliche Unfallursache. Da der Schutzzweck des § 539 Abs. 1 Nr. 1a RVO, der Schutz vor krankhausspezifischen Risiken, auch die Infektion der Klägerin umfasste, lägen alle Kriterien für einen Arbeitsunfall vor.

Praxishinweis

1.Das Urteil zeigt die Bedeutung des Schutzzwecks der unechten Unfallversicherung, wenn es um die Auslegung einer Norm geht, die den Unfallversicherungsschutz auf die Krankenhauspatienten (nicht Privatpatienten!) erstreckt (weitere Nachw. bei MAH/Bultmann, Sozialrecht, 5. Aufl. § 24 Rn. 70ff). Das BSG betont den umfassenden Schutz, der nur insoweit entfällt, als es um den nicht versicherten Behandlungsfehler geht, sofern dieser die allein wesentliche Ursache ist. Das muss feststehen. Es muss also bewiesen sein, dass ein Behandlungsfehler ursächlich war.

Durch diese Hürde der Beweislast scheint der Unfallversicherungsschutz in Richtung einer öffentlich-rechtlichen Haftung für Krankenhausfehler, für die eigentlich Arzt- und Krankenhaushaftpflichtversicherungen zuständig sind, ausgedehnt zu werden. Jedenfalls in den Fällen, in denen aus Sicht der Zivilgerichte Hygiene-Mängel im konkreten Einzelfall als „grobe Behandlungsfehler“ eingestuft werden – mit der Folge der Beweislastumkehr zulasten der Behandler (OLG Düsseldorf, BeckRS 2016, 2205; zur Darlegungslast BGH, BeckRS 2019, 17039).

2. Der Beklagte hat der Klägerin (und ggf. der Kranken- und Pflegekasse) rückwirkend Leistungen zu gewähren (wegen § 44 SGB X begrenzt auf 4 Jahre vor dem letzten Antrag). Gem. § 116 SGB X kommt ein Regress gegen das Krankenhaus in Betracht. Ein hiernach auf den Versicherungsträger übergehender Anspruch der Geschädigten wäre aufgrund der 30-jährigen Frist in § 199 Abs. 2 BGB und der Erkrankung im Jahr der Geburt 1992 u.U. noch nicht verjährt.

3. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Ausführung des Gerichts, dass auch eine Infektion der Klägerin durch Mitbringen des Keims durch die Eltern auf die Intensivstation einen Behandlungs- bzw. Organisationsfehler des Klinikums darstellen würde.

Die Entscheidung ist also von einiger Brisanz. Die Tendenz des Urteils in Richtung einer öffentlich-rechtlichen Haftung für Krankenhausfehler wird jedoch, soweit man den eben gemachten Ausführungen folgt, durch die Regressmöglichkeit des Versicherungsträgers gemildert. Der nun anerkannte „Arbeitsunfall“ der Klägerin begrenzt die zivilrechtliche Haftung der Behandler oder/und der Klinik nicht, da die §§ 104, 105 und 106 SGB VII hier nicht gelten.

Redaktion beck-aktuell, 8. November 2019.