SG Nordhausen: Erwerbsminderung wegen erheblicher Beeinträchtigung auf kognitiv-psychisch-emotionalem Gebiet

SGB VI § 43

1. Strukturelle Defizite, die das Denken und Handeln hemmen und den Alltag so sehr bestimmen, dass von einer erheblichen Beeinträchtigung auf kognitiv-psychisch-emotionalem Gebiet auszugehen ist, lassen, soweit körperliche Defizite an der Wirbelsäule, den Händen und den Schultergelenken hinzukommen, auf eine Erwerbsminderung schließen.

2. Die Umsetzung der Leiden bzw. Einschränkungen in eine Leistungsbewertung erfolgt nach ICF–Kriterien zur Feststellung des bio-psycho-sozialen Funktionsniveaus. Den sozialkommunikativen Fähigkeiten wird bei der Bewertung der Erwerbsfähigkeit bzw. Minderung ein besonderes Gewicht beigemessen. Ein Verweis auf „leichte Verpackungstätigkeiten“ dürfte den Realitäten im Arbeitsleben kaum mehr entsprechen. (Leitsätze des Verfassers)

SG Nordhausen, Urteil vom 07.03.2019 - S 20 R 899/17, BeckRS 2019, 8989

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 11/2019 vom 07.06.2019

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Sachverhalt

Die 1960 geborene Klägerin beantragte im Juni 2016 bei der beklagten DRV Erwerbsminderungsrente. Bis Anfang 2016 hat sie gearbeitet. Danach erfolgte eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Im Reha-Entlassungsbericht heißt es, die Klägerin sei in der Lage, leichte Tätigkeiten für die Dauer von mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.

Auf die Klage der Klägerin gegen den ablehnenden Bescheid und Widerspruchsbescheid holt das SG ein orthopädisches Gutachten ein, welches ein chronifiziertes Schmerzsyndrom des gesamten Achsorgans, eine Belastungsschwäche der Hände bei degenerativen Veränderungen der Fingergelenke sowie eine Funktions- und Belastungsschwäche der Schultergelenke bestätigt, aber meint, die Klägerin sei noch in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen für die Dauer von sechs Stunden täglich zu verrichten. In einem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom März 2018 heißt es, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung bestehe mit einer ausgeprägten Agoraphobie mit Panikstörung sowie Spannungskopfschmerzen und eine Somatisierungsstörung. Deshalb sei aus Sicht dieses Sachverständigen die Klägerin allenfalls noch in der Lage, Arbeitstätigkeiten von weniger als drei Stunden täglich mit den vom Orthopäden genannten Einschränkungen zu verrichten. Die beklagte DRV wendet ein, es gäbe leichte Tätigkeiten, die der Klägerin noch für die Dauer von mindestens sechs Stunden täglich zuzumuten sei und beruft sich dazu auf sozialmedizinische Stellungnahmen.

Entscheidung: Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht

Das SG gibt der Klage statt und bestätigt den Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund eines Leistungsfalls im Oktober 2017. Nachvollziehbar sei, dass sich unter Berücksichtigung der anankastischen Persönlichkeitsstruktur der psychische Zustand der Klägerin seit Anfang 2016 derart verschlimmert hat, dass infolge der rezidivierenden depressiven Störung und der ausgeprägten Agoraphobie unter Berücksichtigung der weiteren Beeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet eine Erwerbsminderung eingetreten ist. Soweit der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten einwendet, diese Beurteilung stehe im Widerspruch zu der in der Anamnese des Gutachtens beschriebenen Tagesstruktur der Klägerin und ihren im Alltagsleben gezeigten Fähigkeiten, kann das Gericht diese Wertung nicht nachvollziehen. Dass die Klägerin noch in der Lage ist, täglich ihre Eltern im Nachbarhaus aufzusuchen und ein bis zwei Mal pro Monat kurze Entfernungen mit dem Pkw für Arztbesuche oder Einkäufe zurückzulegen, bestätigt nicht die Erwerbsfähigkeit. Nachvollziehbar ist dagegen, dass das Schmerzerleben aufgrund der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung zu einer deutlichen Beeinträchtigung der körperlichen und funktionalen Aktivitäten und Fähigkeiten führt. Abzustellen ist insoweit nicht ausschließlich auf den orthopädischen Befund, sondern die körperlichen Auswirkungen aufgrund der psychischen Störungen sind in die Betrachtung mit einzubeziehen.

Die kognitiv-psychisch-emotionalen Fähigkeitseinbußen schlagen sich sozial-kommunikativ darin nieder, dass Gruppenfähigkeit aufgrund fehlender Konflikt- und Teamfähigkeit nicht mehr vorhanden ist sowie die Fähigkeit zu Spontanaktivitäten aufgehoben ist. Die Selbstbehauptungsfähigkeit ist durch die psychische Störung stark beeinträchtigt. Die Fähigkeiten, Aufgaben zu planen und zu strukturieren sowie Regeln zu befolgen, sind schwergradig eingeschränkt. Flexibilität und Umstellungsfähigkeit sowie Durchhaltefähigkeit sind nicht mehr gegeben.

Praxishinweis

1. Das SG verurteilt die DRV zur Zahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ohne Einschränkung, also offensichtlich auf Dauer. Dies macht Sinn, da die Klägerin im November 2017 bereits im 57. Lebensjahr steht, so dass mit der vom Gesetz regelmäßig vorgesehenen Befristung gem. § 102 Abs. 2 SGB VI sehr schnell der Zeitpunkt erreicht ist, in dem der Klägerin vorgezogenes Altersruhegeld entsteht. Allerdings wird dies im Urteil nicht näher erörtert.

2. Die Bedeutung des Urteils besteht in den kritischen Bemerkungen zu der für die Beurteilung der Erwerbsminderung entscheidungserheblichen Verweistätigkeit: Welches sind denn nun tatsächlich aktuell die „üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarktes“? Das SG bezieht sich hier auf die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg vom 12.07.2018 (FD-SozVR 2019, 414502 m. Anm. Plagemann), in dem auf Basis sozialmedizinischer und berufskundlicher Analysen die Wandlung des Arbeitsmarktes problematisiert wird. Danach kommt es auf soziale Kompetenzen an. Eine „leichtere Verpackungstätigkeit“ entspricht nicht mehr den Realitäten am Arbeitsmarkt. Dies gilt auch für das vom Großen Senat im Jahre 1995 erwähnte „Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken oder Zusammensetzen von Teilen“. Diese „Tätigkeiten, die mit diesen Verrichtungen verbunden sind und gleichzeitig der Definition einer leichten Arbeit entsprechen, gibt es am Arbeitsmarkt kaum noch“. Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, wenn das SG formuliert, dass die Erwerbsminderung im Falle der Klägerin auch darauf beruht, dass ihre „Fähigkeiten im sozial-kommunikativen Bereich wie Konflikt- und Teamfähigkeit, Selbstbehauptungsfähigkeit sowie die Fähigkeiten, Aufgaben zu planen und zu strukturieren, Regeln und Routinen zu befolgen“, nicht mehr ausreichend vorhanden sind.

3. Von besonderem Interesse ist auch die kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen einzelner Tests, u.a. des Beck-Depressionsinventars (BDI) und des Strukturierten Fragebogens simulierter Symptome (SFSS). Auffällige Ergebnisse in diesen Tests können nicht unbesehen als Aggravation oder Simulation abgetan werden. Wer in diesen Tests absurd übertreibt, signalisiert – so das SG ausdrücklich – u.U., dass eine erhebliche Erkrankung vorliegt. Hier verweist das SG auf die neuere Fachliteratur, zum Beispiel Widder/Gaidzik, Neurowissenschaftliche Begutachtung, 3. Aufl. 2018, und Bornhütter, Psychische Erkrankungen als Grund der Erwerbsminderung, SozR aktuell, Sonderheft 2018.

4. Der 13. Senat des Bundessozialgerichts hat nun diese Problematik aufgegriffen und dazu wissenschaftliche Stellungnahmen eingeholt. Am 16.05.2019 hat der Senat die mündliche Verhandlung im Rechtsstreit – B 13 R 7/18 R – vertagt, um den Beteiligten Gelegenheit zur Wahrnehmung ihres rechtlichen Gehörs durch eine erneute schriftliche Stellungnahme zu geben. Es handelt sich hier um das Revisionsverfahren gegen die vom SG Nordhausen seiner Entscheidung als Leitbild zugrunde gelegten Entscheidung des LSG Berlin vom 12.07.2018 (a.a.O.). Hier hatte das LSG aufgrund umfassender Sachaufklärung nachgewiesen, dass es den „Pförtner an der Nebenpforte“ als Verweisungsberuf bei erheblich eingeschränkter Leistungsfähigkeit tatsächlich nicht gebe (dazu die Anmerkung, FD-SozVR 2019, 414502). In der Pressemitteilung vom 16.05.2019 heißt es, dass der 13. Senat in dem Revisionsverfahren gegen die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg die Auffassung vertritt, es gebe keine Erkenntnisse, dass Arbeitsplätze auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt, die körperlich leichte Verrichtungen zum Gegenstand haben, wie etwa Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen etc., aufgrund aktueller Entwicklungen wie z.B. der Digitalisierung weggefallen sind. Es geht m.E. weniger um die Digitalisierung als vielmehr um die Verdichtung der Arbeitstätigkeit: Das LSG Berlin-Brandenburg hatte darauf hingewiesen, dass es tatsächlich noch Pförtner gibt, dass aber die Pförtnertätigkeit regelmäßig an Sicherheits-Unternehmen vergeben wird, die den Pförtnern zusätzliche Aufgaben auferlegen, etwa Nachtschichten, Sicherheits-Rundgänge etc. Die Digitalisierung ist nur ein Aspekt, der die Arbeitswelt aktuell prägt. Die Frage ist nun, ob es den Parteien des Revisionsverfahrens gelingt, weitere allgemeine Erkenntnisse beizusteuern, um den Senat zu einer stärker differenzierten Bewertung zu veranlassen.

Redaktion beck-aktuell, 11. Juni 2019.