LSG Sachsen: Erforderliches Schadensbild für eine Wirbelsäulen-BK

SGB VII § 9; Anl. BKV Nr. 2108

1. Bei monosegmentalen Bandscheibenschäden im Segment L5/S1 ohne Begleitspondylose und ohne „Black Disc” in anderen Segmenten kommt ein Zusammenhang im Sinne der BK 2108 nur in Betracht, wenn der Versicherte bereits vor Vollendung des 45. Lebensjahres erkrankte.

2. Das für die Anerkennung einer BK 2108 erforderliche Schadensbild wird beschrieben durch den Vergleich der Veränderungen zwischen Beschäftigten mit hoher Wirbelsäulenbelastung und der Normalbevölkerung hinsichtlich der Kriterien Lebensalter beim Auftreten der Schädigung und Ausprägungsgrad in einem bestimmten Alter, Verteilungsmuster der Bandscheibenschäden an der Lendenwirbelsäule, Lokalisationsunterschiede zwischen biomechanisch hoch und mäßig belasteten Wirbelsäulenabschnitten der gleichen Person sowie Entwicklung einer Begleitspondylose. Heranzuziehen sind auch aktuell die Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Wirbelsäule (sog. „Konsensempfehlungen”), wie sie im Jahre 2005 von einer auf Anregung des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe veröffentlicht wurden. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Sachsen, Urteil vom 17.01.2019 - L 6 U 233/15, BeckRS 2019, 1358

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 08/2019 vom 26.04.2019

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Sachverhalt

Der 1974 geborene Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nummer 2108 der Anlage 1 zur BKV. Er war seit dem 16. Lebensjahr als Stahlbetonbauer tätig und klagt über Wirbelsäulenbeschwerden mit Ausstrahlung ins linke Bein seit dem Jahre 2011. Im Jahre 2013 erfolgte eine Nukleotomie. Die Expositionsanalyse ergab, dass der Kläger im Zeitraum vom 01.08.1991 bis zum 04.03.2013 einer Gesamtdosis von 24 MNh ausgesetzt war. In einer ergänzenden Stellungnahme zur Exposition wurde das Vorliegen der Zusatzkriterien der B2-Konstellation der Konsensempfehlungen verneint. Die Beklagte lehnt die Anerkennung einer BK Nummer 2108 ab. Nach Auswertung sämtlicher medizinischer Befundunterlagen, insbesondere der Röntgenaufnahmen, liege eine anerkennungsfähige Konstellation nach den Konsensempfehlungen nicht vor. Der Kläger wendet ein, er habe über 20 Jahre auf Montage als Beton- und Stahlbetonbauer auf Großbaustellen ohne Unterbrechung durch langwierige Krankheit und Arbeitslosigkeit gearbeitet. Risikosportarten, Leistungssportarten oder andere private Tätigkeiten, die zur Schädigung der Lendenwirbelsäule geführt haben könnten, habe er nie betrieben.

Auf die Klage gegen den erfolglosen Widerspruch hebt das SG die Bescheide auf und stellt, gestützt auf ein vom SG eingeholtes fachärztliches Gutachten fest, dass bei dem Kläger seit dem 05.03.2013 eine BK Nummer 2108 vorliegt. Dagegen richtet sich die Berufung der beklagten BG. Auf Veranlassung des LSG nimmt der vom SG beauftragte Gutachter erneut ausführlich Stellung und weist darauf hin, dass seit Veröffentlichung der sog. „Konsensempfehlungen” im Jahre 2005 diese intensiv und auch kritisch diskutiert worden seien. Ein allgemein anerkannter Konsens konnte bisher nicht hergestellt werden. Für einen ursächlichen Zusammenhang spreche im Falle des Klägers nicht nur die ausreichende Exposition, sondern auch eine plausible zeitliche Korrelation zwischen der Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung und der Exposition und der Tatsache, dass das unterste Segment der LWS betroffen ist und eine deutliche Chondrose altersuntypischer Art beim seinerzeit 39jährigen Kläger vorliegt. Dagegen richtet sich die Berufung der beklagten BG.

Entscheidung: Die plausible zeitliche Korrelation reicht nicht aus

Das LSG hebt auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG auf und weist die Klage ab. Unbeschadet der Feststellungen zur Exposition kommt es für die Anerkennung der BK 2108 darauf an, dass zur Überzeugung des Gerichts ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung besteht. Zur Beurteilung des Zusammenhangs ist die aktuell herrschende medizinische Lehrmeinung zu berücksichtigen. Für den Bereich der BK Nummer 2108 spiegelt diese sich vor allem in den sog. Konsensempfehlungen, veröffentlicht 2005, wider. Das danach erforderliche Schadensbild wird beschrieben durch den Vergleich der Veränderungen zwischen Beschäftigten mit hoher Wirbelsäulenbelastung und der Normalbevölkerung.

Bezogen auf den Fall des Klägers ist festzustellen, dass er die gefährdende Tätigkeit im März 2013 aufgegeben hat, bis dahin war er nach der Expositionsanalyse der beklagten BG lendenwirbelsäulenbelastend tätig. Beim Kläger liegt auch das Krankheitsbild vor, welches Gegenstand der BK Nummer 2108 ist. Für die Anerkennung einer BK muss jedoch nicht nur ein Bandscheibenschaden nachweisbar sein; hinzutreten muss zwingend eine damit einhergehende klinische Symptomatik. Auch dies bejaht der Senat.

Jedoch ist die beim Kläger nachgewiesene bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht im Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit durch die genannten beruflichen Einwirkungen verursacht. Für den danach erforderlichen Kausalzusammenhang reicht die plausible zeitliche Korrelation nicht aus. Das beim Kläger bestehende Schadensbild ist einer Konstellation mit dem Buchstaben „B” der Konsensempfehlungen zuzuordnen: Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/5, die Ausprägung des Bandscheibenschadens ist Chondrose Grad II. Zwar kann man davon ausgehen, dass es außerberufliche Ursachen nicht gibt, jedoch fehlt es an der Erfüllung sog. „Zusatzkriterien”, um die hier festgestellte bandscheibenbedingte Erkrankung mit der Exposition in einen Ursachenzusammenhang zu bringen. Nach den medizinischen Feststellungen konnte eine Höhenminderung und/oder ein Prolaps an mehreren Bandscheiben nicht festgestellt werden, noch konnten im Hinblick auf die Exposition des Klägers eine besonders intensive Belastung i.S.d. Zusatzkriteriums 2 der Konstellation B2 oder hohe Belastungsspitzen entsprechend des Zusatzkriteriums 3 der Konstellation B2 eruiert werden. Das beim Kläger die Berufskrankheit vor Vollendung des 45. Lebensjahres eingetreten ist, reicht für die Feststellung der Kausalität nicht aus. Dazu verweist der Senat auch auf die Rechtsprechung des BSG (u.a. BeckRS 2015, 72093).

Praxishinweis

1. Nachweislich schwere Arbeiten auf dem Bau und ein nachweislich schwerer Bandscheibenschaden mit OP-Notwendigkeit im Alter von 39 Jahren soll für die Anerkennung einer BK Nummer 2108 nicht ausreichend sein. Die vom LSG vorgetragene Argumentation bewegt sich im Rahmen der Rechtsprechung (z.B. LSG Hessen, BeckRS 2017, 102338 oder LSG Nordrhein-Westfalen, BeckRS 2018, 35466 und auch BSG, NZS 2019, 274 mit auf die Bedenken hinweisende Anm. von Kainz).

2. Das BK-Recht vergleicht – mit den Mitteln der Sozialmedizin und der Statistik – Bandscheibenschäden bei der „Normalbevölkerung” und bei dem Vergleichskollektiv, das beruflich bedingt besonders exponiert war. Dieser gedankliche Ansatz überzeugt auch heute, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es tatsächlich mit an Dezisionismus grenzenden Unwägbarkeiten zu tun haben: 

  • Welche Art Bandscheibenschäden bzw. bandscheibenbedingte Erkrankungen die Normalbevölkerung in welchem Alter und mit welcher Belastung hat, darüber können auch besonders qualifizierte Sachverständige nur spekulieren. Die in den Konsensempfehlungen 2005 formulierten zusätzlichen „Kriterien” sind Hilfserwägungen – mehr nicht. 
  • Wer sich einmal näher mit der Auswertung von Röntgenaufnahmen, MRT-Befunden etc. befasst hat, muss zur Kenntnis nehmen, dass die im Gutachten formulierten Untersuchungsergebnisse keineswegs so eindeutig und „objektiv” sind, wie dies auch der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegt.  
  • Vor Jahren hatte das BSG (u.a BeckRS 2003, 30311884) formuliert, dass der Tatbestand der BK 2108 jedenfalls deshalb nicht gegen Prinzipien des Rechtsstaats (Bestimmtheitserfordernis) verstößt, weil es der Rechtspraxis gelingt, überzeugende Abgrenzungskriterien zu konsentieren. Aktuell findet sich ein solcher Konsens wohl nur im Negativen, nämlich in der Ablehnung, wie sie weder von den Betroffenen noch von den sie behandelnden Ärztinnen und Ärzten nachvollzogen werden können. Die BK 2108 unterbreitet der Praxis ein Angebot, löst aber „die Krux mit dem Kreuz” (Kranig SGb 2016, 504) nicht auf. Weitere Einzelheiten bei Bultmann, in MAH SozR, 5. Aufl. 2018, § 24, Rn. 241.

Redaktion beck-aktuell, 8. Mai 2019.