LSG Thüringen: Pannenhelfer ist «wie-beschäftigt» i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB VII

SGB VII §§ 2, 8, 128

1. Ein Pannenhelfer kann als „Wie-Beschäftigter“ gem. § 2 Abs. 2 SGB VII des von der Panne betroffenen Kfz-Halters unter Unfallversicherungsschutz stehen.

2. Der Versicherungsschutz ist nicht beschränkt auf die eigentliche Hilfemaßnahme, sondern erstreckt sich auch auf die Erkundung des notwendigen Hilfebedarfs. (Leitsätze des Verfassers)

LSG Thüringen, Urteil vom 22.12.2018 - L 1 U 858/17, BeckRS 2018, 34681

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 03/2019 vom 15.02.2019

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Sachverhalt

Am 19.10.2012 bemerkte die Klägerin nach Rückkehr von einer Wanderung, dass der bei der Beigeladenen (Kfz-Haftpflichtversicherung) versicherte Führer eines Pkw auf einem Parkplatz Probleme hatte. Die Klägerin vernahm laute Motorgeräusche und durchdrehende Reifen. Sie begab sich anschließend mit drei weiteren Personen zu dem Pkw. Zu einem Anschieben des Pkw kam es nicht. Stattdessen gelang es dem Pkw-Fahrer, doch noch den Rückwärtsgang einzulegen und zurückzufahren. Dabei erfasste der Pkw die Klägerin und überrollte diese. Die Klägerin erlitt  unter anderem Verletzungen am rechten Arm und rechten Ober- und Unterschenkel. Die Beklagte lehnt die Anerkennung dieses Ereignisses als Arbeitsunfall ab. Auch unter dem Aspekt der „Pannenhilfe“ komme ein Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 SGB VII nicht in Betracht, da der Pkw tatsächlich verkehrstüchtig gewesen sei. Eine Panne habe objektiv gar nicht vorgelegen. Es sei nicht zu erkennen, dass die Klägerin und die sie begleitenden Personen mit der Absicht tätig geworden seien, beim Ausparken oder Zurücksetzen des Pkw zu helfen. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII seien ebenfalls nicht erfüllt.

Die Klage wies das SG Gotha ab. Die Klägerin habe dem Fahrzeugführer allenfalls Hinweise zur Bedienung seines Pkw gegeben. Dies rechtfertige weder die Annahme einer sog. Wie-Beschäftigung noch einer Nothilfesituation. Dagegen richtet sich die Berufung der beigeladenen Kfz-Versicherung. Das SG trenne den einheitlichen Hilfeleistungsvorgang zu Unrecht und spalte ihn in zwei verschiedene Vorgänge künstlich auf. Das LSG hat die Klägerin persönlich und drei Zeugen gehört.

Entscheidung: Erkundung des notwendigen Hilfebedarfs unterliegt bereits dem Versicherungsschutz

Das LSG gibt der Berufung statt. Die Kfz-Haftpflichtversicherung ist gem. § 109 SGB VII klagebefugt, so dass es nicht darauf ankommt, dass die Klägerin selbst kein Rechtsmittel eingelegt hat. Die Klagebefugnis ergibt sich auch daraus, dass die Klägerin die Beigeladene vor dem LG auf Schadensersatz in Anspruch nimmt.

Das Ereignis vom 19.10.2012 war – so das LSG – ein Arbeitsunfall gem. § 8 Abs. 1 SGB VII. Zum Unfallzeitpunkt stand die Klägerin als Wie-Beschäftigte nach § 2 Abs. 2 SGB VII unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung. Es handelte sich um eine ernstliche, einem fremden Unternehmen – nämlich dem des Kfz-Halters – dienende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert. Die Tätigkeit entsprach auch offensichtlich dem mutmaßlichen Willen des Fahrers bzw. Halters. Als die Klägerin neben dem Pkw stand, waren die Scheiben heruntergekurbelt. Der Fahrzeugführer war mit der beabsichtigten Hilfeleistung einverstanden – zumindest konkludent. Dass die Ausübung einer Pannenhilfe einen wirtschaftlichen Wert darstellt, folgt schon daraus, dass es professionell organisierte Pannenhilfe gibt.

Irrelevant ist, dass es tatsächlich nicht zu einem Anschieben gekommen ist, weil für die Gesamtbetrachtung auch die beabsichtigten Handlungsschritte zu berücksichtigen sind. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sind nicht nur isoliert die am Unfalltag konkret ausgeführten Handlungselemente, müssen auch die vorgesehenen Tätigkeiten – hier das Anschieben – zu berücksichtigen. Die Erkundung des notwendigen Hilfebedarfs unterliegt bereits dem Versicherungsschutz (so BSG, BeckRS 2012, 76358). Es kommt also nicht darauf an, ob objektiv eine Panne vorgelegen hat, da die Klägerin (und der Fahrzeugführer) von einer Panne ausgingen und, in der Annahme, Pannenhilfe leisten zu müssen, miteinander sprachen. Maßgeblich ist hier, dass die Hilfeleistende in berechtigter Weise eine Situation annehmen durfte, die eine Pannenhilfe erfordert. Allein die subjektive Vorstellung des Handelnden, es bestehe eine Pannensituation und er wolle insoweit Hilfe leisten, begründet den Versicherungsschutz nicht. Die Handlungstendenz muss vielmehr durch die objektiven Umstände des Einzelfalles bestätigt sein. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, da die Klägerin bei der Ankunft auf dem Parkplatz laute Motorengeräusche hörte und beim anschließenden Herangehen an den Pkw feststellte, dass dieser nicht in der Lage war, zurückzusetzen. Bis zu der Feststellung, dass offensichtlich nur eine Gangverwechslung vorlag, durften aber die Umstehenden einschließlich der Klägerin davon ausgehen, dass eine Panne in diesem Sinne vorlag und nach Feststellung der Gangverwechslung geschah bereits unmittelbar der Unfall.

Praxishinweis

1. Der Senat befasst sich kurz auch mit dem Versicherungsschutz gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII. Eine für diesen Versicherungsschutz erforderliche Gefahrenlage ist nicht zu erkennen, da – objektiv – der Pkw-Fahrer zu jedem Zeitpunkt den Pkw gefahrlos verlassen konnte und ein Abrutschen des Pkw auch nicht unmittelbar bevorstand.

2. Das LSG Thüringen hat am 20.12.2018 (BeckRS 2018, 34691) zum Arbeitsunfall auf einer „Dienstreise“ Stellung genommen und im dortigen Fall den Versicherungsschutz verneint, da es sich um eine längere Reise handelte. Im Ablauf der einzelnen Tage gibt es immer wieder Situationen oder Verrichtungen, die mit dem Unternehmen nichts zu tun haben. im dortigen Fall war der angestellte Projektentwickler während einer Dienstreise nach der morgendlichen Dusche und dem Öffnen der Glastür auf dem feuchten Kunststofffußboden ausgerutscht. Dabei erlitt er eine Patella-Querfraktur am linken Knie. Dieses Ereignis geschah während einer rein persönlichen Verrichtung, die nicht mehr mit den betrieblichen Belangen in einem Kausalzusammenhang stehen. Der Versicherte nutzte die Dusche auch nicht im Wesentlichen deshalb, weil er durch die betriebliche Tätigkeit so stark verschmutzt war oder aus betrieblichen Gründen einer Erfrischung bedurfte.

3. Die Einbeziehung der Pannenhilfe in den Unfallversicherungsschutz als Wie-Beschäftigter war lange Jahre durchaus streitig (siehe dazu: Plagemann/Radtke-Schwenzer, Gesetzliche Unfallversicherung, 2. Aufl., 2007, 1. Kapitel, Rn. 120, 154 und Stöber, NZV 2007, 57).

4. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen, so dass voraussichtlich auf Basis dieses Urteils nun definitiv und rechtskräftig feststeht, dass die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Entschädigungsansprüche hat sie nun gegen die Unfallkasse, nicht aber gegen den Fahrzeugführer und den Halter sowie deren Kfz-Haftpflichtversicherung. Ausgeschlossen ist auch ein Anspruch auf Schmerzensgeld. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn man das Verhalten des Fahrzeugführers als vorsätzlich i.S.d. § 104 Abs. 1 SGB VII ansieht. Der Vorsatz im Sinne dieser Vorschrift muss sich auf die Verletzungshandlung selbst beziehen und auch auf den Verletzungserfolg. Man kann wohl kaum argumentieren, dass der Fahrzeugführer – der hier sich offensichtlich „sehr dumm angestellt“ hat – die Schädigung der ihm zu Hilfe eilenden Klägerin „billigend in Kauf genommen“ hat (dazu u.a. BAG, FD-ArbR 2013, 350418).

Redaktion beck-aktuell, 19. Februar 2019.