Anmerkung von
Rechtsanwältin Eva Steffen, Köln
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 10/2018 vom 25.05.2018
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Sachverhalt
Der Kläger stammt aus Libyen. Er reiste zu einem unbekannten Datum in das Bundesgebiet ein und stellte erst nach einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht im August 1996 einen Asylantrag, der im Oktober 1997 bestandskräftig abgelehnt wurde. Ein Asylfolgeantrag aus dem Jahr 1998 wurde ebenfalls im Februar 1999 bestandskräftig abgelehnt. Während der Dauer seines ersten Asylverfahrens war er zeitweise unbekannten Aufenthaltes. Gleiches gilt für den gesamten Zeitraum nach Ablehnung des Folgeantrages von Januar 2000 bis zu seiner Festnahme im November 2001. Bis Januar 2002 verbüßte er eine Haftstrafe. Er war während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet wiederholt straffällig geworden und zur Fahndung ausgeschrieben.
Nach seiner Haftentlassung im Januar 2002 erhielt er eine Duldung und bezog seither durchgängig Grundleistungen nach § 3 AsylbLG. Im Februar 2011 beanspruchte er Analogleistungen nach § 2 AsylbLG auch für die bestandskräftigen Zeiträume nach § 9 Abs. 3 AsylbLG i.V.m. § 44 SGB X. Dies lehnte das beklagte Sozialamt mit der Begründung ab, dass er die Dauer des Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich beeinflusst habe, weil er wiederholt untergetaucht sei und sich dadurch bewusst und vorsätzlich dem Zugriff der zuständigen Behörden entzogen habe. Außerdem habe er nicht unmittelbar nach seiner Einreise, sondern erst später nach seiner Inhaftierung erstmals einen Asylantrag gestellt. Gem. Art. 16 Abs. 2 Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahme-RL) dürften die ihm als Asylbewerber gewährten Vorteile in einem solchen Fall eingeschränkt und entzogen werden. Das ihm vorzuwerfende rechtswidrige Verhalten habe erkennbar der Verfahrensverzögerung und damit der Aufenthaltsverlängerung gedient. Im Widerspruchs- und anschließenden Klageverfahren wendet der Kläger ein, dass seit 2002 eine Abschiebung nach Libyen überhaupt nicht mehr möglich gewesen sei. Die Passlosigkeit könne ihm nicht vorgeworfen werden, weil die libysche Botschaft die Ausstellung entsprechender Papiere verweigert habe. Er habe sich durch das Untertauchen lediglich der Strafverfolgung entziehen wollen. Ein derart lange zurückliegendes Fehlverhalten könne einen Ausschluss von Leistungen nach § 2 AsylbLG auch noch 10 Jahre später nicht rechtfertigen, zumal er keinerlei Möglichkeit habe, an seiner Situation aktuell etwas zu ändern. Spätestens seit 2011 sei ihm aus einem weiteren nicht vorwerfbaren Grund eine Rückkehr nach Libyen unmöglich. Hierdurch sei eine Zäsur eingetreten, so dass ihm ab diesem Zeitpunkt Leistungen nach § 2 AsylbLG zustünden. Das SG wies die Klage der Argumentation des Sozialamtes folgend ab.
Entscheidung
Das LSG weist die Berufung des Klägers zurück. Bereits durch die verspätete Asylantragstellung habe er den Beginn des Verwaltungsverfahrens und damit zugleich die Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Nach der Rechtsprechung des BSG sei ausschlaggebend, ob das Verhalten generell abstrakt geeignet sei, die Dauer des Aufenthaltes zu beeinflussen; nicht ob das Verhalten tatsächlich zu einer Aufenthaltsverlängerung geführt habe.
Eine Ausnahme von dieser typisierenden Betrachtungsweise müsse nur dann gemacht werden, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von dem Verhalten des Ausländers in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätten vollzogen werden können. Ob bereits eine verspätete Asylantragstellung einen Ausschluss von Leistungen nach § 2 AsylbLG zu rechtfertigen vermag, hat das LSG offen gelassen. Maßgeblich sei, dass eine Abschiebung vor 2002 nach Libyen möglich gewesen wäre. Dass er sich seinerzeit nur der Strafverfolgung habe entziehen wollen, beseitige die Rechtsmissbräuchlichkeit nicht, sondern vertiefe diese. Nach der Rechtsprechung des BSG könne ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Fehlverhalten Analogleistungen auch für die Zukunft sperren. Hierfür sei nicht entscheidend, dass der Missbrauchstatbestand noch andauere oder noch kausal für den derzeitigen Aufenthalt des Ausländers sei. Bereits ein einmaliges Verhalten reiche aufgrund der maßgeblichen generell-abstrakten Betrachtungsweise aus, um einen Anspruch auf Dauer auszuschließen (BSG, BeckRS 2008, 56388).
Das LSG hat auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 zu § 3 AsylbLG (BeckRS 2012, 71078) keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen einen dauerhaften Ausschluss von Leistungen nach § 2 AsylbLG. Das Existenzminimum werde durch die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG sichergestellt, die nach Maßgabe des § 1a AsylbLG noch reduziert werden dürften. Leistungen nach § 2 AsylbLG gingen demgegenüber über das zu gewährleistende Existenzminimum hinaus, so dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht berührt werde. § 2 AsylbLG solle das rechtmäßige Verhalten der nach dem AsylbLG leistungsberechtigten Personen steuern und hierdurch eine rechtmäßige Durchführung des Ausländerrechts insgesamt sicherstellen. Mit dem Anspruchsausschluss solle ein längerer oder dauerhafter Aufenthalt von Personen verhindert werden, die hierzu nicht berechtigt seien. Diese gelte auch dann, wenn der Betroffene sich bereits einen längeren Zeitraum in der Bundesrepublik aufhalte und das rechtsmissbräuchliche Verhalten inzwischen aufgegeben habe.
Da das LSG die entscheidungserheblichen Rechtsfragen bereits durch die Rechtsprechung des BSG als geklärt angesehen hat, hat es die Revision nicht zugelassen.
Praxishinweis
Die Entscheidungsgründe des LSG sind mit der Grundsatzentscheidung des BVerfG zu § 3 AsylbLG (a.a.O.) und den dort aufgestellten Leitlinien nicht in Einklang zu bringen. Bereits nicht nachvollziehbar ist die Argumentation, dass die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylblG lediglich eine “Vergünstigung” sei und diese Leistungen über das menschenwürdige Existenzminimum hinausgingen. Mit Zuerkennung eines Anspruchs nach § 2 AsylbLG sind Leistungen nach dem “Normalmaß” – in diesem Fall analog dem SGB XII – zu gewähren. Das BVerfG hatte eine Differenzierung bei der Festlegung eines von diesem “Normalmaß” abweichenden menschenwürdigen Existenzminimums nach § 3 AsylbLG nur dann für zulässig angesehen, wenn der Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann. Eine Beschränkung auf ein durch etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte geprägtes Existenzminimum ist dagegen- so das BVerfG – unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus und ohne Rücksicht auf die Berechtigung einer ursprünglich gegenteiligen Prognose jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der tatsächliche Aufenthalt die Spanne eines Kurzaufenthalts deutlich überschritten hat. Für diese Fälle ist ein zeitnaher, an den Gründen des unterschiedlichen Bedarfs orientierter Übergang von den existenzsichernden Leistungen für Kurzaufenthalte zu den Normalfällen im Gesetz vorzusehen.
Der Verweis auf ein abweichendes Leistungsniveau ist folglich nur bedarfsorientiert und keinesfalls bei einem längeren Aufenthalt zu rechtfertigen. In dem Zugang zu Leistungen nach § 2 AsylbLG nur eine Vergünstigung für den Fall rechtstreuen Verhaltens zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Durchführung des Ausländerrechts zu sehen, ist mit diesen Vorgaben nicht zu vereinbaren. Der Verbleib im Bundesgebiet allein ist nicht rechtsmissbräuchlich. Leistungen nach § 2 AsylbLG können schon unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedenfalls nicht auf Dauer ausgeschlossen werden. Tatbestände für Anspruchskürzungen z.B. wegen Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen sind dagegen u.a. in § 1a AsylbLG vorgesehen. Hier hat der Betroffene es in der Hand, durch Aufgabe eines pflichtwidrigen Verhaltens wieder in den Genuss der ihm zustehenden Leistungen zu kommen.
Inzwischen hat der Gesetzgeber mit der Regelung zur Befristung einer Anspruchskürzung in § 14 AsylbLG anerkannt, dass ein Fehlverhalten nicht unbegrenzt in einer Sanktion fortwirken kann, so dass zu Recht vertreten wird, diese Reglung analog auch auf § 2 AsylbLG anzuwenden. Ein nicht mehr abänderbares, zurückliegendes oder korrigiertes Fehlverhalten kann – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur alten Rechtslage (BeckRS 2008., 56388) angesichts der Entscheidung des BVerfG zu § 3 AsylbLG und der seit März 2015 bis dato eingeführten Änderungen und dem Neuverständnis des Asylbewerberleistungsrechts – nicht zu einem dauerhaften Ausschluss von Leistungen nach § 2 AsylbLG führen (siehe hierzu Oppermann, “Das Asylbewerberleistungsrecht in der Fassung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzt (Teil 2)” jurisPR-SozR 8/2016).
Das Vorenthalten gesetzlich vorgesehener höherer Leistungen stellt einen unzumutbaren Nachteil dar, der einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes rechtfertigt (LSG Sachsen-Anhalt, BeckRS 2009, 59625). Dies gilt im besonderen Maß vor dem Hintergrund, dass die Leistungssätze nach § 3 AsylbLG seit März 2016 entgegen der Vorgaben in § 3 Abs. 5 AsylbLG unverändert geblieben sind, weil die mit dem 3. Änderungsgesetz zum AsylbLG ab dem 01.01.2017 vorgesehene Neufestsetzung nicht zustande kam. Die Differenz zwischen den Leistungen nach § 3 und § 2 AsylbLG beträgt inzwischen 62 EUR in der Regelbedarfsstufe 1, so dass der Grundleistungsempfänger in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt wird. Das Existenzminimum nach § 3 AsylbLG beruht daher jedenfalls aktuell weder auf einer ordnungsmäßen Berechnungsgrundlage noch wird das Existenzminimum gedeckt (zu den verfassungsrechtlichen Bedenken PKH-Beschlüsse des LSG Nordrhein-Westfalen, BeckRS 2017, 117995 und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.11.2017 – L 8 AY 22/17 B, n.v.).
Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Aufnahme-RL nur für Asylsuchende und nur für die Dauer des Asylverfahrens anzuwenden ist und keine Rechtsgrundlage für Anspruchskürzungen darstellt, die der nationale Gesetzgeber nicht vorgesehen hat.