Recht haben bedeutet nicht zwingend recht bekommen. Zwar ist der sogenannte Justizgewährleistungsanspruch ein Kernelement unseres Rechtsstaates, doch Bürgerinnen und Bürgern stehen bei der Durchsetzung ihrer Rechte verschiedensten Barrieren gegenüber. Zur sogenannten Rechtsmobilisierung existieren bereits seit den 60er/70er Jahren mehrere Forschungsstränge.
Vor allem die Rechtssoziologie befasst sich mit den Bedingungen, unter denen Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen, ihre Rechte durchsetzen können. Umfragen in Wales, Kanada und den Niederlanden ergaben etwa, dass nur ein Bruchteil (3 bis 13%) der grundsätzlich einklagbaren Ansprüche bis vor die Gerichte gelangen. Im Fokus der Forschung steht besonders der Rechtszugang von marginalisierten Personen(-gruppen). Denn gerade gesellschaftlich benachteiligte Gruppen wie Migranten oder Menschen mit geringem Einkommen unternehmen oftmals keine gerichtlichen Schritte, um zu ihrem Recht zu kommen.
Dass es eine Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Anspruch auf Zugang zum Recht und seiner tatsächlichen Inanspruchnahme gibt, ist in der Wissenschaft deswegen unbestritten. Darum ging es im weiteren Sinne auch auf dem fünften Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck im September 2023. Katharina Reisch, Hauke Bock und Tim Nicklas Festerling nahmen das Thema "Zugänge zum Recht – zugängliche Rechte?" wörtlich. Und reichten eine Kunstinstallation ein.
"Citizen Art"-Ansatz: Zugänge zum Recht divers denken
Die drei promovieren derzeit und arbeiten nebenbei als wissenschaftliche Mitarbeiterin, bzw. Mitarbeiter. Sie lernten sich an der Georg-August-Universität Göttingen kennen - daher auch der Name des Künstlerkollektivs: "Göllektiv". Reisch, Bock und Festerling hatten schon länger die Idee, ihr privates Interesse an der Kunst mit der Rechtswissenschaft zu verbinden. "Das Thema 'Zugänge zum Recht' inspirierte uns aufgrund seiner Vielschichtigkeit und seines Facettenreichtums. Als Kriminolog:innen arbeiten wir ohnehin sehr interdisziplinär und verknüpfen viele verschiedene Perspektiven miteinander. Unsere Motivation war es daher, die 'Zugänge zum Recht' möglichst divers und anschaulich abzubilden", so Reisch. Unterstützt und motiviert wurden die Doktorandin und die Doktoranden unter anderem von Prof. Dr. Katrin Höffler von der Universität Leipzig.
Doch die Installation sollte nicht nur ihren eigenen Blick wiedergeben. Das Göllektiv verfolgte vielmehr einen "Citizen Art"-Ansatz. Menschen aus ganz Deutschland sollten die Möglichkeit haben, ihren ‚Zugang zum Recht‘ bildlich darzustellen. Auf Fotos sollte gezeigt werden, wie sich die Zugänge zum Recht baulich manifestieren. Türen, Tore, Treppenaufgänge. Zu Gerichtsgebäuden, Justizvollzugsanstalten und Justizprüfungsämtern. Dazu veröffentlichte das Göllektiv einen "Call for Photos". Die eingereichten Bilder wurden dann als Videoinstallation im Foyer der Universität Innsbruck gezeigt und begleiteten den gesamten rechtssoziologischen Kongress. "In den Kaffeepausen sorgte unser Projekt immer wieder für spannende Diskussionen, nicht nur über die Thematik selbst, sondern auch allgemein über die Verbindung von Kunst und Recht", erzählt Reisch.
Der BAföG-Briefkasten als "Zugang zum Recht"
Zu sehen war beispielsweise die pompöse Fassade des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, der BAföG-Briefkasten des Studentenwerks Göttingen, die Polizeidienststelle Innsbruck und die Haltestelle "Landgericht" der Wuppertaler Schwebebahn. Eingereicht wurden aber nicht nur Fotos aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt. Beispielsweise vom Criminal Court of Justice in Dublin (Irland), dem ältesten Gesetzbuch der Welt aus Gortyn (Kreta) und dem Court House auf San Juan (Inselgruppe innerhalb der USA). Zu den kuriosesten Einsendungen gehört mit Sicherheit das Foto eines Autos, auf dessen Heckscheibe gut lesbar "Huren & Söhne – Kanzlei" zu lesen ist.
Doch nach der Kunstausstellung ist vor der Kunstausstellung. Das Projekt stieß auf so großes Interesse, dass das Göllektiv im Anschluss an den Kongress in Innsbruck für eine weitere Projektvorstellung auf den 74. Deutschen Juristentag in Stuttgart eingeladen wurde. Dort zeigt das Künstlerkollektiv vom 25. bis zum 27. September 2024 eine erweiterte Neuauflage der Videoinstallation im Rahmen des zivilrechtlichen Programms ("Zugang zur Justiz"). Am Oberlandesgericht Celle wird das Projekt außerdem ab Oktober 2024 in einer dreimonatigen Kunstausstellung gezeigt.
Reisch ist begeistert, wie gut das Projekt ankommt. Inzwischen umfasst die Fotoshow 230 Bilder von ganz unterschiedlichen "Zugängen zum Recht". Einige davon zeigt das Göllektiv auch auf seinem Instagram-Kanal. Für die Ausstellung in Stuttgart und Celle werden im Rahmen eines "Call for Photos" erneut Bilder von Zugängen zum Recht gesucht. Für die Zukunft hat das Göllektiv außerdem schon weitere Ideen – worum es genau gehen wird, verraten die Initiatoren aber noch nicht.
Hier geht es zum Call for Photos.
Die Autorin Jannina Schäffer ist Gründerin und Chefredakteurin des Online Magazins "JURios – kuriose Rechtsnachrichten". Die Volljuristin promoviert berufsbegleitend an der Deutschen Hochschule der Polizei.