Ziviljustiz: Immer weniger Verfahren an Amts- und Landgerichten
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© Stefan Lochner / Adobe Stock

Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat Zahlen über die Belastung der Justiz im vergangenen Jahr veröffentlicht. Die Zahl der Zivilverfahren ist demzufolge – nach einem Zwischenhoch wegen der Dieselklagen – weiter zurückgegangen. Blickt man 20 Jahre zurück, zeigt sich ein regelrechter Einbruch.

Bei den Landgerichten rutschte die Zahl der neu eintrudelnden Akten im Jahr 2022 erstmals unter die Schwelle von 300.000 – und zwar auf 286.309. Gegenüber dem Jahr 2002, als es noch 412.924 Eingänge gab, schrumpften die Aktenzuträge damit um rund 30%. Noch krasser stellt sich das Bild an den Amtsgerichten dar: Im Vergleich zum Vorjahr verzeichneten die amtlichen Statistiker dort einen Rückgang um 5,1% auf 715.384 Eingänge – etwa die Hälfte dessen, was die erstinstanzlichen Urteilsfinder vor 20 Jahren mit 1 443 584 Fällen zu bewältigen hatten.

Auf der anderen Seite dauern die Prozesse hingegen immer länger. So mussten die Parteien im vergangenen Jahr am AG durchschnittlich 9,0 Monate auf ein streitiges Urteil warten. Im Jahr 2002 ging das schneller: Da waren es noch 6,8 Monate. Wer damals vors Landgericht zog, konnte – wenn es die Eingangsinstanz war – nach 11,2 Monaten mit einem streitigen Richterspruch rechnen; wer dort Berufung einlegte, bekam nach 17,5 Monaten eine solche Entscheidung. Heute sind es 14,6 Monate in erster Instanz und 25,8 bei Berufungen. 

Ursachen-Studie: Aufwand, Kosten, Dauer und neue Mechanismen

Das Bundesjustizministerium hat zu dem Thema im April eine umfangreiche Studie präsentiert. Die Zahlen der neu eingegangenen Verfahren erster Instanz bei Amts- und Landgerichten seien seit Jahren rückläufig, teilte es zu seiner Motivation mit. Denn von 2005 bis 2019 seien die Neuzugänge bei den Amtsgerichten um etwa 36% und bei den Landgerichten um rund 21% zurückgegangen – seitdem habe sich der Trend weiter fortgesetzt.

Das komplexe Fazit des Abschlussberichts von Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich, Prof. Dr. Armin Höland und Monika Nöhre, der sich auf die Befragung diverser Gruppen –  aus der Anwaltschaft über Rechtsschutzversicherer bis hin zu Privatleuten – sowie auf Aktenstichproben stützte:  "Unsere Ergebnisse aus der statistischen Analyse landgerichtlicher Verfahren deuten wegen einer verlängerten Verfahrensdauer bei gleichzeitig sinkendem Anteil von Verfahren mit Beweistermin, weniger Verfahren pro Richterstelle sowie einer Verringerung der Quote des Prozesserfolgs auf Klägerseite darauf hin, dass die durchschnittlichen Verfahren bei den Landgerichten im Zeitverlauf komplexer, anspruchsvoller und auch im Ergebnis weniger vorhersehbar geworden sind."

Die Befragung von 7.500 Privatpersonen habe insbesondere ergeben, "dass der hohe Aufwand, die Kosten der Rechtsverfolgung, die Verfahrensdauer und die Schwierigkeit, die Erfolgsaussichten abzuschätzen, die wichtigsten Gründe für einen Verzicht auf eine Klage darstellen“. Ein Trost für Richterinnen und Rechtspolitiker: Der Rückgang liegt demnach nicht an einem generellen Vertrauensverlust in die staatliche Justiz. "Neben sie sind vielmehr eine Reihe privater oder staatlicherseits nur in Mindeststandards kontrollierter Mechanismen getreten“, schreiben die Wissenschaftler. Diese beugten Konflikten entweder bereits vor oder lösten sie in privaten Verhandlungen: "Soweit ein Streitanlass überhaupt als Konflikt definiert wird, wird er regelmäßig in private Verhandlungen, in ein anbieterseitig organisiertes niedrigschwelliges Beschwerdemanagementsystem, in eine teils staatlich, teils privat organisierte Schlichtung oder in die Schiedsgerichtsbarkeit überführt.“ 

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der Schriftleitung der Neuen Juristischen Wochenschrift, 23. August 2023.