Schon länger geplant war eine Reform, die die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie auf eine breitere Basis stellen soll. Die Ampelkoalition hatte aber kurz vor der Verabschiedung im Bundestag im vergangenen November noch draufgesattelt: Im Vordergrund steht eine Ausweitung von § 128a ZPO. Danach sollte künftig das Gericht Videoverhandlungen nicht mehr nur gestatten, sondern auch anordnen können. Ermöglicht werden sollte überdies eine „vollvirtuelle“ Variante, bei der niemand mehr im Justizgebäude sitzen muss. Statt – wie im ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – die Öffentlichkeit nur durch Übertragung in einen Raum vor Ort zu beteiligen, hätten Interessierten auch beispielsweise Zugangslinks bereitgestellt werden können. Auch reichte demnach nun schon der Antrag eines einzigen Verfahrensbeteiligten, um die Soll-Vorschrift zur Videoverhandlung greifen zu lassen. Neu war überdies, dass die Urteilsverkündung ebenfalls per Video erfolgen könnte – auch bei sogenannten Stuhlurteilen.
Doch anschließend stellte sich der Bundesrat quer – trotz nachdrücklicher Appelle von DAV und Bundesrechtsanwaltskammer. Dabei beriefen die Länder sich auch auf massiven Druck aus der "Justizpraxis", wenngleich keineswegs alle Richterinnen und Richter die nicht nur von der Anwaltschaft geforderten Neuregelungen ablehnen; auch der Deutsche Richterbund übte nur teilweise Kritik.
Doch so werde die Befugnis der Gerichte zur Verfahrensleitung unangemessen eingeschränkt, befanden im Vorfeld schon die 16 Justizminister und -ministerinnen im Rechtsausschuss der Länderkammer. Das richtete sich vor allem dagegen, dass künftig bereits auf Antrag nur eines Verfahrensbeteiligten dessen Teilnahme per Bild- und Tonübertragung angeordnet werden sollte. Auch dass der Novelle zufolge eine Ablehnung konkret begründet werden musste, erwecke den "Eindruck von Misstrauen gegenüber den Gerichten". Das sei geeignet, "Streitigkeiten über die Begründung und deren Umfang hervorzurufen, welche über einen Antrag auf Besorgnis der Befangenheit des Gerichts ausgetragen werden können". Das galt gleichermaßen für die geplanten Änderungen für Verhandlungen vor Arbeits- und Sozial- sowie Verwaltungs- und Finanzgerichten, so die Ressortchefs. Auch dass sogar der oder die Vorsitzende aus dem Homeoffice agieren können sollte, ging ihnen entschieden zu weit: Zu groß erscheine die Gefahr, "dass etwa in einem häuslichen Arbeitszimmer Störungen von außen für die Konzentration des Gerichts auf die konkrete Verhandlung auftreten, die im Sitzungssaal ausgeschlossen werden könnten". Das gelte bis auf wenige Ausnahmen auch für die anderen Richterinnen und Richter. Vor Augen stand den Politikern offenbar das Bild von Kleinkindern oder Katzen, die plötzlich durchs Bild huschen.
"Mündliche Verhandlung als Herzstück"
Zwar unterstützten die Länder das Ziel, die Durchführung mündlicher Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung zu erleichtern, fasste der Bundesrat in seiner Plenarsitzung Mitte Dezember bei der Ablehnung des Gesetzes seine Haltung zusammen. Die Regierungsvertreter und -vertreterinnen äußerten jedoch fast unisono grundlegende Bedenken gegen diverse Vorgaben des Gesetzes, die nach ihrer Einschätzung den Kern des richterlichen Selbstverständnisses berührten und die Verfahrensleitung der Vorsitzenden unangemessen einschränkten. Die mündliche Verhandlung als Herzstück eines jeden Gerichtsprozesses sei von herausragender Bedeutung für die Wahrheitsfindung. Die Vorsitzenden müssten daher nach eigenem Ermessen entscheiden können, ob sie Kameras und Mikrofone einsetzen wollen, so die Länderkammer. Nach ihrer Ansicht dürfe das nicht zur Dispositionsbefugnis der Parteien gestellt werden. Zudem kritisierte sie die vorgesehene Begründungspflicht, wenn ein Gericht den Einsatz von Videotechnik ablehnt.
Die Erprobung rein virtueller Verhandlungen, bei denen auch das Gericht selbst per Video zugeschaltet ist, lehnen die Länder erst recht ab: Sie wollen am Grundsatz der Saalöffentlichkeit festzuhalten. Denn sonst sei weder sicher festzustellen, wer an einer Verhandlung teilnimmt, noch seien wirksame sitzungspolizeiliche Maßnahmen möglich. Eine weitere Sorge: Video-Verhandlungen könnten abgefilmt und weiterverarbeitet oder veröffentlicht werden, um Äußerungen aus dem Zusammenhang zu reißen und missbräuchlich zu verwenden. Wenn die Beteiligten und das Gericht befürchten müssten, dass ihre Äußerungen im Internet für eine unbeschränkte Personenanzahl und einen unbegrenzten Zeitraum verfälscht dargestellt würden, so die Länder, bestehe die Gefahr, dass sich Verfahrensbeteiligte nicht mehr unbefangen verhielten. Der vielleicht wichtigste Stein des Anstoßes aber war, dass das "Gesetz zum verstärkten Einsatz von Videokonferenztechnik in Zivil-, Verwaltungs-, Arbeits-, Finanz- und Sozialgerichten" umgehend in Kraft treten sollte – ein heikles Unterfangen schon alleine wegen des technischen und personellen Aufwands für die Einrichtung der Infrastruktur.
Wieder mehr Entscheidungsbefugnisse für das Gericht
Doch nun haben sich nach einem Bund-Länder-Treffen und einem Umlaufverfahren die Kontrahenten über die wesentlichen Zankäpfel geeinigt, wie die NJW aus informierten Kreisen erfuhr. Das Bundesjustizministerium hat daraus einen neuen Gesetzesvorschlag gebastelt, den es an den Vermittlungsausschuss schicken will. Er umfasst rund ein Dutzend Änderungen an dem vom Bundestag von den drei Ampelparteien sowie der damaligen Linksfraktion in dritter Lesung verabschiedeten Reformgesetz; nur die CDU/CSU-Fraktion und AfD-Fraktion votierten damals dagegen.
Die Details sind etwas für Feinschmecker. So wurde der Vorbehalt gestärkt, dass in den Gerichten ausreichende Kapazitäten ("Vorbehalt des Möglichen") verfügbar sein müssen: Nach dem Kompromiss ist er nicht mehr bloß in einem neuen § 16 EGZPO enthalten, sondern wurde zentral in § 128a Absatz 1 S. 1 ZPO integriert. Ein gleichlautender Passus wurde in die Vorschriften über die Videoverhandlung und Videobeweisaufnahme in den anderen Verfahrensordnungen aufgenommen (§§ 30 Absatz 5, 32 Absatz 3 FamFG; § 50a Absatz 1 ArbGG; § 110a Absatz 1 SGG; § 102a Absatz 1 VwGO).
Durch weitere Änderungen wird die Entscheidungsbefugnis des Gerichts gegenüber der vom Parlament verabschiedeten Reform nun doch wieder ausgeweitet: So haben die Unterhändler von Bund und Ländern das Erfordernis, dass ein "geeigneter Fall" vorliegen muss, wieder zurück in die Grundnorm des § 128a Absatz 1 S. 1 ZPO-E (und entsprechende Vorschriften der anderen Verfahrensordnungen) verschoben. Für sämtliche Konstellationen, in denen das Gericht über eine Zulassung des Online-Verfahrens entscheiden muss, soll nun jeweils durch ausdrücklichen Verweis auf jene Bestimmung die Geltung der darin enthaltenen Schranken ("geeignete Fälle/Kapazität") sichergestellt werden. Damit ist ausdrücklich geregelt, dass in allen betroffenen Konstellationen die Begrenzung auf "geeignete Fälle" und "ausreichende Kapazitäten" gilt, glauben die Kompromissfinder.
Die Vorschrift des § 128a ZPO, die schon seit langem Videoverhandlungen ermöglichte, aber vor der Corona-Pandemie – auch mangels technischer Ausstattung der Gerichte und mangelnder Bereitschaft mancher Richterinnen und Richter – selten genutzt wurde, wird nicht nur intern umstrukturiert: Die Reihenfolge der Abs. 2 und 3 von § 128a ZPO wurde aus systematischen Gründen getauscht – Abs. 2 regelt jetzt die Gestattung oder Anordnung von Amts wegen, Abs. 3 die Gestattung auf Antrag. Vor allem enthält die Vorschrift (und die anderen Verfahrensordnungen) nun das Wort "kurz" - die Ablehnung eines Antrags auf Teilnahme per Bild- und Tonübertragung muss nun - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls- nur kurz begründet werden. Justizvertreter und -vertreterinnen hatten ansonsten erhöhten Arbeitsaufwand sowie neue Anknüpfungspunkte für Befangenheitsanträge befürchtet. Der oder die Vorsitzende "soll" jenen Verfahrensbeteiligten, die keinen Einspruch eingelegt haben, die audiovisuelle Teilnahme aber erlauben. Ein neuer Abs. 7 legt die Unanfechtbarkeit solcher Entscheidungen fest. Außerdem: Terminverschiebungen werden erleichtert (§ 227 Abs. 1 ZPO-E). Hinzu kommen zwei Anpassungen für Verfahren vor Familiengerichten in §§ 30 Abs. 5.