Vorsätzliche Ignoranz: Von den Hindernissen digitaler Transformation und Schrödingers Katze
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Während politische Bekenntnisse zur Digitalisierung stetig wiederholt werden, geschieht hinter den Kulissen oft zu wenig. Eine schwedische Studie legt nun nahe, dass das sogar Absicht sein könnte. Das macht auch Hoffnung, meint Sina Dörr.

Es ist zur Binse geworden: Öffentliche Institutionen, zu denen auch die Justiz zählt, müssen mit der Zeit gehen und ihre (Dienst-) Leistungen auf Vordermann bringen. Nicht nur, weil sie sonst weiter an Akzeptanz verlieren, sondern auch, weil sie andernfalls schlicht nicht mehr funktionsfähig arbeiten. An politischen Bekenntnissen zur digitalen Transformation fehlt es dementsprechend nicht. Woran liegt es also, dass es nur mühsam voranzugehen scheint? 

Eine Studie aus Schweden soll nun mehr Licht ins Dunkel bringen. Danach wird digitaler Fortschritt durch ein Phänomen ausgebremst, das die Expertinnen und Experten vorsätzliche Ignoranz nennen: Personen im öffentlichen Dienst sollen – so die Studie – notwendige Erkenntnisse wissentlich ignorieren. Einzelne Entscheidungstragende verkennen danach bewusst Voraussetzungen oder den Bedarf nach einem (gelungenen) digitalen Wandel. Das bedeutet entweder, dass ein Verständnis der (tatsächlichen, nicht nur der angenommenen) Nutzerbedürfnisse fehlt oder schlicht das Wissen um die Notwendigkeit grundlegender Reformen. 

Die Forschung zeigt auf, dass diese Art von Unkenntnis nicht zufällig ist, sondern ein strategisches Werkzeug sein kann. Vorsätzliche Ignoranz soll in organisatorischen Entscheidungsprozessen dazu dienen, Verantwortung oder politische Rechenschaftspflichten zu vermeiden und die bestehende Ordnung innerhalb einer Organisation aufrechtzuerhalten. Sie soll insbesondere individuellen Handlungsspielraum verleihen und für Einzelpersonen von Vorteil sein – allerdings auf Kosten der Innovation.

Einzelne Personen können entscheidend sein

Dass einzelne Personen in entscheidenden Positionen auch eine Schlüsselrolle als treibende Kräfte der digitalen Transformation spielen können, haben schon vorangehende Studien festgestellt. Sie attestieren diesen „Digitalisierungs-Champions“ tiefgehende digitale Kompetenzen und Fähigkeiten in Bezug auf Transformationsprozesse. Umgekehrt können Einzelpersonen in Entscheidungsfunktionen, die über ein unzureichendes Maß an digitaler Expertise verfügen, den Transformationsprozess aber auch erheblich behindern. Mit den Dimensionen dieser Unwissenheit in Organisationen befasst sich die neue Studie aus Schweden und identifiziert Gründe, warum vorsätzliche Unwissenheit gedeiht:

  • Fragmentierte Verantwortungen: Silostrukturen in Organisationen lassen die Verantwortlichkeit für digitale Infrastrukturen verschwimmen. Die Autoren nennen als Beispiel eine Sozialdienstverwaltung, die vielleicht vom Einsatz künstlicher Intelligenz profitieren könnte. Solange deren Integration aber nur Aufgabe der IT-Abteilung ist, bietet dies einem Sozialdienstmitarbeiter die Möglichkeit, das Ganze weitgehend zu ignorieren. Umgekehrt können  innovative Ideen aus der unmittelbaren Praxis an der vermeintlichen Zuständigkeitshoheit der IT-Abteilungen scheitern. Das Ergebnis: Niemand fühlt sich zuständig für digitale Infrastrukturen, und der Fortschritt wird zum Stillstand verurteilt.
  • Laissez-faire-Professionalität: Die strikte Trennung von Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Fachabteilungen hemmt die funktionsübergreifende Kommunikation und interdisziplinäre Kooperation. Das erschwert u.a. den Wissensaustausch – wie ein verzweigtes Spiel von Stille Post.
  • Technologische Unsicherheit: Ständige technologische Veränderungen sorgen für eine Einstellung innerhalb der Verwaltung, die darauf gerichtet ist, grundsätzlich erst einmal abzuwarten, wohin die Reise geht. Während dieser Wartezeit werden jedoch viele Chancen verpasst.
  • Entkopplung als Mechanismus der Unkenntnis: Die Studie spricht außerdem von „Entkopplung“ als Fehlausrichtung offizieller und informeller Strukturen von Organisationen. Digitale Entkopplung wird in diesem Kontext als Diskrepanz zwischen tatsächlichem und nach außen getragenem Handeln verstanden. Dieser Mechanismus vermittelt der Studie nach Entscheidungstragenden ein Gefühl von Legitimität, während gleichzeitig grundlegende Veränderungen vermieden werden. Die Organisation kann vermeintliche Aktivitäten für digitale Transformation vorweisen, während sie tatsächlich wenig tut, um die erforderlichen Schritte für eine echte Transformation zu unternehmen. Kurz gesagt: Organisationen können ihre Digitalisierungsziele schönreden, während sie gleichzeitig große Schritte zurückmachen. Sie präsentieren sich nach außen als Vorreiter der digitalen Zukunft und lassen intern kaum etwas geschehen. 

Digitalisierung bedeutet auch, zu fragen: Was ist eigentlich meine Aufgabe?

Echte Transformation bedeute – so die Studie, mit Verweis auf andere Referenzstudien – für eine Organisation nicht nur eine Veränderung der Abläufe, sondern auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Identität und ihren Kernfunktionen. Indem eine Institution die digitale Transformation vernachlässigt, vermeidet sie gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Die vorsätzliche Ignoranz soll ein Indikator für diese Vermeidungsstrategie sein. 

Die Studie benennt auch verschiedene Formen der Ignoranz, u. a.: 

  • Nutzungs-Ignoranz: Die Möglichkeit, Ressourcen strategisch zu nutzen, werde nicht nur vernachlässigt, sondern auch aktiv ignoriert.
  • Ignoranz gegenüber dem digitalen Erbe: Digitale Altlasten können nachhaltige Transformation behindern.
  • Erkundungs-Ignoranz: Aktivitäten, mit denen neue Möglichkeiten erkundet werden könnten, die jedoch mit einem gewissen Risiko verbunden sind, werden erstickt. 

Die Entkopplung von digitaler Transformation bietet laut der Studie der Organisation ein vordergründiges Gefühl von Sicherheit und den Entscheidungstragenden, die dem digitalen Wandel gegenüber skeptisch sind, zugleich einen perfekten Vorwand, um nichts verändern zu müssen. Deswegen könne Digitalisierung im öffentlichen Sektor trotz aller Ambitionen ins Stocken geraten.

Und was hat Schrödingers Katze damit zu tun? 

Wenn das Phänomen vorsätzlicher Ignoranz selbst im digitalen Vorreiterland Schweden messbar ist, lässt sich nur erahnen, welches Potenzial in Deutschland auf diese Weise verschenkt wird. Befragungen zur digitalen Transformation der Justiz, die auf Rückhaltekräfte in Verwaltungsstrukturen auch aufgrund von Einzelinteressen verweisen, deuten darauf hin, dass auch hier vorsätzliche Ignoranz in nicht unerheblichem Umfang nachhaltige Transformation behindert. Die schwedische Studie ist für die digitale Transformation der Justiz (und des öffentlichen Sektors insgesamt) auch deswegen relevant, weil sie messbar und damit sichtbar machen kann, was bislang nur auf anekdotische Evidenz gestützt werden konnte und oft nicht mehr war als eine diffuse Ahnung. 

Es ist ein bisschen wie mit Schrödingers Katze: Dieses Gedankenexperiment der Quantenmechanik geht davon aus, dass der Akt des Messens oder Beobachtens eines Systems die Voraussetzung für die entscheidende Veränderung des Aggregatszustands, also für eine Veränderung des Systems, schafft.  Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn anhand dieser und darauf aufbauender Forschungsergebnisse qualitative Kennzahlen für den Beitrag relevanter Entscheidungstragender und funktioneller Einheiten zur digitalen Transformation im öffentlichen Sektor entwickelt würden. 

Wäre es nicht ein Gewinn, wenn Verantwortliche sich darauf stützen könnten, um aktiv Verantwortung zu übernehmen und sich neugierig den Herausforderungen der digitalen Transformation zu stellen? Wenn damit grundlegenden Hindernisse überwunden und bürgernahe Justiz und Verwaltungsdienste in einer digitalen Welt nicht nur ein leeres Versprechen, sondern lebendige Realität werden könnten? Diese empirische Grundlage bietet für die Praxis einen wertvollen Ansatz für die nachhaltige digitale Transformation. 

Sina Dörr ist Richterin am OLG Köln und hat einen Think Tank Legal Tech und KI in der Justiz geleitet. Sie ist spricht und berät darüber hinaus zu Themen rund um die digitale Transformation. 

Gastbeitrag von Sina Dörr, 13. Januar 2025.