Vorgezogener Brexit am EuGH?
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Die Entlassung der britischen EuGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston führt zu einer Kontroverse über die Unabhängigkeit des Europäischen Gerichtshofes. Nach mehr als 14 Jahren im Dienst wurde ihr Nachfolger direkt nach Erlass einer Anordnung der EuGH-Vizepräsidentin am 10.09.2020 in ihrer Abwesenheit vereidigt.

Entlassung vor Ende der Amtszeit

Bei ihrer Wiederwahl im Jahr 2015 hatte Sharpston hingegen noch damit rechnen können, dass ihre neue Amtszeit von sechs Jahren ungestört verlaufen würde. Dann kam der Brexit. Die Mitgliedstaaten bestimmten am 02.09.2020 den Griechen Athanasios Rantos zu ihrem Nachfolger. Die für den 07.09.2020 vorgesehen Amtseinführung musste jedoch verschoben werden: Auf Antrag von Sharpston stoppte der Präsident der Dritten Kammer des Gerichts der Europäischen Union, Anthony Collins, die Ernennung von Rantos zunächst. Dann ging es jedoch sehr schnell: Am 10.09.2020 hob die Vizepräsidentin des EuGH, Silva de Lapuerta, auf Beschwerde des Rats der Europäischen Union und der Vertreter der Mitgliedstaaten die einstweilige Anordnung auf. Nach vorläufiger Bewertung ("prima facie") liege ein Angriff auf eine Entscheidung der Mitgliedstaaten vor. Dieser sei unter keinem Gesichtspunkt zulässig, da solche Beschlüsse nicht richterlich überprüfbar seien (Az.: C-423/20 P[R] und C-424/20 P[R], jeweils Rn. 26).

Laut der im Netz veröffentlichten Stellungnahme von Sharpston hatte die Vizepräsidentin sie weder über das Verfahren informiert noch ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. In unmittelbarem Anschluss ("a few minutes after those two orders were handed down") sei ihr Nachfolger vereidigt worden.

Zwingende Gründe?

Ob dies ein würdiger Umgang mit einem verdienten Mitglied des Gerichtshofs war, ist nur eine der öffentlich diskutierten Fragen. Der britische Jurist und Journalist Joshua Rozenberg wies auf seiner Webseite darauf hin, dass üblicherweise die Amtsvorgänger zur Vereidigung ihres Nachfolgers eingeladen würden und ihnen dort für ihre Arbeit gedankt werde. Hier sei man anders verfahren. Er überschrieb seinen Beitrag damit, dass Sharpston quasi vom Hof gejagt worden sei ("British Lawyer kicked off EU court").

Diskutiert wurde auch, ob der Brexit tatsächlich "automatisch" zu einem vorzeitigen Amtszeitende auch der Generalanwältin führt, so die von der ehemaligen EU-Generalanwältin gestellte Frage. In mehreren umfangreichen Beiträgen auf der Seite Verfassungsblog.de analysierten zwei Rechtswissenschaftler der Universitäten Groningen und Aarhus, Dimitri Kochenov und Graham Butler, die rechtlichen Hintergründe. Sie kommen zum Schluss, dass der von ihnen als "Drama in drei Akten" bezeichnete Vorgang einen klaren Bruch des Europarechts darstelle. Anders als bei den Richtern lege Art. 19 Abs. 2 EUV nicht fest, dass die Generalanwälte aus den jeweiligen Mitgliedstaaten kommen müssten. Im Übrigen habe Sharpston auch die luxemburgische Staatsangehörigkeit. Aus dem Protokoll Nr. 3 zur Satzung des EuGH ergebe sich zudem, dass die Amtszeit nur durch Zeitablauf, Tod, Rücktritt oder einstimmigen Ausschluss durch alle Richter und Generalanwälte endet, so die Rechtswissenschaftler. Die Unabhängigkeit des Gerichts werde aufgeweicht, wenn man – wie der EuGH – davon ausgehe, dass die Personalentscheidung der EU-Staaten grundsätzlich nicht angegriffen werden könne. Dies sei gerade im Blick auf die Rechtsstaatsverfahren gegenüber Polen und Ungarn sehr problematisch. Sharpston selbst äußerte sich ähnlich: Sie glaube nicht, dass die Ereignisse um ihre Entlassung den Rechtsstaat ("rule of law") in der EU gestärkt hätten.

Reaktion aus dem Europäischen Parlament

Der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Tiemo Wölken (SPD) wertete das Schicksal Sharpstons als "klassischen politischen Kollateralschaden des Brexit-Experiments". "Da Artikel 50 EUV vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs nie zuvor benutzt wurde, sind viele rechtlichen Fragen naturgemäß ungeklärt und eine dieser Fragen ist, ob die Abberufung einer Generalanwältin nach einem Austritt aus der EU legal ist – wobei einiges dafürspricht, dass sie das nicht ist", sagte er der NJW.

Redaktion beck-aktuell, 15. September 2020.