Tagungsraum ist original erhalten
Und wie war es im August? Heiß, und die Mücken surrten, berichtet Waschin. Kein Ort, um lange zu verweilen, trotz der idyllischen Lage fern von Kriegstrümmern, und so wollten viele schnell fertig werden. Waschin führt fast ein Menschenleben später ebenfalls an einem Sommertag eine Gruppe Geschichtslehrer durch die Ausstellung im Augustiner-Chorherrenstift, wo 1948 getagt wurde. Der Raum, einst das Speisezimmer von König Ludwig II., ist original erhalten, und anhand der Sitzordnung, die ausliegt, sieht man, wer sich damals um die Verfassung für die noch gar nicht existierende Bundesrepublik stritt. "Was hat man genommen?", fragt Waschin in den holzvertäfelten Raum hinein. "Man hat alte Nazis genommen."
Auch Unterstützer des NS-Regimes dabei
In der Tat saßen damals Männer, die das NS-Regime unterstützt hatten, wie der Staatsrechtler Theodor Maunz, neben KZ-Überlebenden wie Hermann Brill. Der Jurist, ehemaliger SPD-Reichstagsabgeordneter und entschiedener Gegner Hitlers, führte während des Konvents ein Tagebuch, in dem er seine Mitstreiter oder vielleicht doch eher Widersacher und die Auseinandersetzungen mit ihnen beschrieb. Carlo Schmid, damals Stellvertretender Staatspräsident und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern, erscheint darin "wie Moby Dick, der gern Kapitän Ahab morden möchte", weil Gastgeber Adolf Pfeiffer, Leiter der bayerischen Staatskanzlei, der Versammlung das Etikett "Verfassungskonvent" aufdrückte.
Ergebnisse des Konvents waren "sehr bedeutende Grundlage"
Der Auftrag für diese Zusammenarbeit sei nämlich gar nicht so klar gewesen, sagt Walther Michl, Verfassungsrechtsexperte und Akademischer Rat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. In der britischen Besatzungszone etwa habe man kein politisches Mandat für die Versammlung gesehen, in der amerikanischen und der französischen dagegen hätten Vertreter wie Schmid auf politische Entscheidungen gedrungen. Michl wertet die Ergebnisse des Konvents, die in wichtigen Teilen vom Parlamentarischen Rat in das Grundgesetz aufgenommen wurden, als "sehr bedeutende Grundlage". Der Rat, mit Konrad Adenauer als Präsident, begann seine Tagung nur neun Tage nach Herrenchiemsee. Wesentliche Bereiche, die das Grundgesetz kennzeichneten, seien "in Herrenchiemsee aufs Gleis gesetzt" worden, erläutert Michl.
Erfahrungen aus NS-Zeit bestimmten viele Vorschläge
Neu für eine deutsche Verfassung und in Herrenchiemsee bereits vorgeschlagen worden sei, dass die Verfassung mit dem Grundrechtsteil beginnt. Sehr maßgeblichen Einfluss darauf habe der KZ-Überlebende Brill gehabt. Auch neu sei, dass ein Bundesverfassungsgericht eingerichtet wird, das Verstöße gegen die Verfassung ahnden kann, zudem die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums, die reduzierte Stellung des Bundespräsidenten (Michl: "kein Ersatzkaiser mehr, eher eine Ersatzqueen"), und die Ewigkeitsklausel, die manche Bestimmungen des Grundgesetzes für unaufhebbar erklärt. Dahinter stehe die Annahme, dass es auch verfassungswidriges Verfassungsrecht geben könne, so Michl – die furchtbaren Erfahrungen aus der NS-Zeit standen hinter vielen Vorschlägen, die der Konvent festhielt.
Kritik an eingeschränkter Möglichkeit für Neuwahlen
Umstritten war, welches Ausmaß der Föderalismus haben sollte. Der Bayer Pfeiffer hat auf eine starke Länderposition geachtet, sagt Michl. Ein Punkt, der auch ins Grundgesetz einging, hat sich nach Michls Ansicht nicht bewährt: die Tatsache, dass sich der Bundestag nicht selbst auflösen kann. Der Kanzler muss erst die Vertrauensfrage stellen und diese negativ beantwortet werden, damit Neuwahlen möglich sind. "Es hat sich eine unehrliche Variante eingeschlichen", sagt Michl – wie bei Helmut Kohl 1982, als er Neuwahlen nach der Ablösung von Helmut Schmidt als Bestätigung seiner Politik erreichen wollte.
Besucher sind vor allem Polizeischüler, Juristen und Lehrer
Gästeführer Gerhard Waschin führt seine Gruppe weiter, erzählt von geizigen Konventteilnehmern. Die mussten nämlich für eventuell mitgereiste Gattinnen selbst zahlen. "Da haben die ganz schön geknausert am Trinkgeld." Seit Anfang des Jahres führt Waschin unter dem Motto "Verfassungsinsel Herrenchiemsee" vor allem Erwachsene durch die Ausstellung. Polizeischüler, Juristen, Lehrer. "Das wird gut angenommen." Vielleicht trägt das Jubiläum dazu bei, denn die Ausstellung selbst existiert schon 20 Jahre und "ist eigentlich wenig beachtet worden". "Kaum einer weiß noch, dass dort innerhalb von 14 Tagen das Grundgesetz entstanden ist", sagte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2017 über Herrenchiemsee.
Dinge, die das Grundgesetz besonders machen
Die Erinnerung soll man Michls Ansicht nach aber aufrechterhalten. "Es wäre gut, daran zu erinnern, dass die Dinge, die das Grundgesetz besonders machen, in Herrenchiemsee erarbeitet wurden" – dazu zählt der Jurist das starke Bundesverfassungsgericht. "Das könnte man stärker in die Erinnerungskultur aufnehmen." Hermann Brill konnte ein recht zufriedenes Fazit ziehen: "Trotz der menschlich unzureichenden Basis der Beratungen über die Grundrechte freue ich mich, in all diesen Punkten der Sache eine bestimmte Richtung gegeben zu haben".