Wollte man die großen Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Völkerrechts – und das wäre in diesen Zeiten ein Leichtes – negativ intonieren, könnte man sie mit einem Zitat von Angelika Nußberger überschreiben. "Ich stecke in einem Dilemma", sagt die frühere EGMR-Richterin und Professorin für Völkerrecht an der Uni Köln. Dieser Satz fängt die aktuelle Gefühlslage vieler Völkerrechtlerinnen und -rechtler gut ein. Während die Giganten dieser Welt – USA, Russland, China, zunehmend auch Indien – immer aggressiver und rücksichtsloser ihre Interessen durchsetzen und sich dabei wenig um internationale Regeln scheren, mag auch der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Angesicht eines wohl rechtswidrigen Angriffs auf den Iran das Wort "Völkerrecht" eigentlich gar nicht in den Mund nehmen und spricht stattdessen lieber von "Drecksarbeit". Die Zeiten einer regelbasierten internationalen Ordnung scheinen vorbei zu sein. Zwischen dem absoluten Geltungsanspruch des Rechts und den geschilderten Realitäten – da liegt Nußbergers Dilemma.
Doch weil sie den zitierten Satz nicht irgendwo, sondern auf einer Veranstaltung unter dem Titel "Die Verwandlung der internationalen Ordnung: Zerbricht das westliche Regelsystem?" sagte, sollte man es beim Dilemma nicht belassen – und stattdessen etwas genauer zuhören. Geladen zur Veranstaltung hatte am Montag der Bonner Staatsrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio, neben Nußberger und ihm war auch der Jurist und CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen zugegen. Und das Trio war in seiner Zusammenstellung gut geeignet, um den Stand der Debatte abzubilden: Nußberger, Völkerrechtlerin durch und durch, die mit ihrer Disziplin ringt und nach Antworten sucht; Di Fabio, der Gesellschaftstheoretiker, der die Dinge gern in großen Zusammenhängen erklärt und Visionen entwickelt; und schließlich Röttgen, der Realpolitiker, der das Völkerrecht aus seiner Profession als eine Verhandlungsposition unter vielen kennt.
Röttgen sieht "Zeit der Monster" angebrochen
Die internationale regelbasierte Ordnung sei "under attack" diagnostizierte Di Fabio eingangs, um sogleich zu fragen, ob das eigentlich so außergewöhnlich sei. Schließlich musste das Völkerrecht schon immer ohne Gewaltmonopol auskommen, das die Regeln durchsetzt. Es habe aber lange die Erwartung und den Traum gegeben, so Di Fabio, "dass internationale Organisationen und Systeme kollektiver Sicherheit die Staaten zivilisieren und eine Friedensordnung verwirklichen." Darauf sei auch das Grundgesetz programmiert. Nun aber scheine die "Faktizität militärischer Macht" den Ausschlag zu geben.
Zunächst einmal bietet sich, will man diese Entwicklung verstehen, eine historische Betrachtung an: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Röttgen sieht den Startschuss bei der Übernahme der Macht in China durch den heutigen Staatschef Xi Jinping im Jahr 2012, der seitdem sein eigenes Land autoritär umgebaut habe und einen "strategischen Revisionismus der internationalen Ordnung" betreibe. Diesen Revisionismus habe dann Russland aufgegriffen, indem es 2014 die Krim annektierte, so Röttgen. Schließlich hätten sich die USA als einzige internationale Ordnungsmacht immer weiter zurückgezogen, mit ihrer Äquidistanz zwischen Russland und der Ukraine, aber auch mit ihren Handelskriegen, welche die Axt an das Fundament der internationalen Ordnung – den freien Welthandel - legten, meint Röttgen.
Nun, diagnostizierte der Christdemokrat, liege die westliche Ordnung in Trümmern und die "Zeit der Monster" sei wieder da – ein Bild des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci, der 1930 die Weltlage so beschrieb: "Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen". In diesem Interregnum sah Gramsci die "Monster" am Zug, die sich ungehindert der Welt bemächtigten. An die Stelle der damals aufstrebenden Faschisten, so geht Röttgens Vergleich, kann man heute die autoritären Herrscher wie Trump, Putin oder Xi setzen.
Was ist eigentlich "der Westen"?
Wenn von der regelbasierten internationalen Ordnung die Rede ist, ist meist die – oftmals synonym verwendete – westliche Ordnung gemeint. Hierzu stellte Nußberger die Frage in den Raum: "Gibt es den Westen noch?" Ihr Fazit: Ja, doch er ist tief verunsichert und ringt mit sich selbst – Extrembeispiele: USA und Ungarn. Und was ist dieses Regelsystem, von dem alle reden? Hier, plädierte Nußberger, müsse man sich wieder auf Kernwerte besinnen, auf die sich im Westen alle einigen könnten, um so die alte Front neu zusammenzubauen.
Ein wichtiges Mantra jener Putins, Xis, Modis und anderer Staats- und Regierungschefs, welche die etablierte Völkerrechtsordnung attackieren, ist die Doppelmoral des Westens – sprich: Das internationale System sei im Wesentlichen ein Werk der USA, von dem zuallererst sie und ihre Partner profitierten, nicht aber die Länder im Osten oder im Globalen Süden. Dass man die eigenen Werte und die eigene Ordnung stets hinterfragen müsse, da widersprach an diesem Abend niemand.
Doch ob die mutmaßliche Übergriffigkeit des Westens der Grund für die aufziehende Gegenbewegung sei, da war man uneins. Während Nußberger auf einige afrikanische Länder verwies, die den Westen bis heute als kolonialen Antagonisten wahrnähmen und Di Fabio den chinesischen Staatschef Xi, den amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance und andere in einer "Rebellion" gegen die alte westliche Ordnung sah, reduzierte Röttgen – ganz Realpolitiker – die Debatte auf die Machtfrage. Die autoritären Herrscher seien alle keine Glaubenskrieger, so der Unionspolitiker; sie wollten vielmehr in der gegenwärtigen Lage ihre Interessen durchsetzen, so weit es gehe. Das gelte auch für die Afrikanerinnen und Afrikaner.
Was kann das Völkerrecht noch leisten?
Doch die Frage stand weiter unbeantwortet im Raum: War das Völkerrecht eigentlich jemals das hehre Instrument zur Zivilisierung der Welt? Oder war es auch nur ein Machtinstrument, das aus westlicher Sicht den Richtigen diente? War es immer schon eher ein Mittel der politischen Argumentation denn ein echtes Korsett, aus dem die ungezähmten und zuweilen groben Geister nun ausbrechen wollen? Röttgen scheint das so zu sehen, wenn er sagt, dass das Völkerrecht in der aktuellen Lage immer noch seine Bedeutung habe – als Teil sogenannter "Smart Power", einer Kombination von "Hard" und "Soft Power", also militärischer Stärke mit diplomatischer Argumentation. Hier, so Röttgen, könne das Recht als "reale Machtquelle" seinen Beitrag leisten.
Dass die von Röttgen beschworene Softpower nicht bloß Wunschdenken, sondern ganz real ist, belegten alle drei einstimmig mit der jüngsten – eigentlich eher dunklen – Vergangenheit. Der 24. Februar 2022, der Einmarsch Russlands in die Ukraine, sei auch eine "Sternstunde des Völkerrechts" gewesen, beteuerte Nußberger. Schließlich habe sich eine überwältigende Mehrheit der Weltgemeinschaft in den Vereinten Nationen gegen den Aggressor und auf die Seite der Ukraine gestellt. Und selbst Putin argumentiere, wenn er sein Handeln zu rechtfertigen versuche, bis zum heutigen Tag in völkerrechtlichen Kategorien. Bis heute sei Russland politisch weitgehend isoliert, pflichtete Röttgen bei. "Die Ukraine hat eine große Soft Power!"
Doch eine absolute Geltung, die selbst Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler auch in der Vergangenheit nur in Sonntagsreden beschworen, die vermochte niemand auszumachen, auch nicht die Professorin Nußberger. Somit schien der Diskussionsabend jenen Recht zu geben, für die das internationale Recht nie mehr war als eine in rechtliche Kategorien gegossene politische Argumentation. Welche Bedeutung ihm das verleiht, liegt auch in den Händen derjenigen, die es bemühen.