VGH Mannheim: Keine zwingende Befreiung von Motorradhelmpflicht für Turban tragenden Sikh

Ein Sikh, der aus religiösen Gründen einen Turban trägt, hat keinen zwingenden Anspruch auf eine Ausnahme von der für Motorradfahrer geltenden Schutzhelmpflicht. Dies geht aus einem am 04.09.2017 veröffentlichten Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim hervor. Im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung sei aber zu beachten, dass die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesundheitlichen Gründen nicht großzügiger behandelt werden dürfe als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen. Der VGH hat die Revision zugelassen (Az.: 10 S 30/16).

Turban tragender Sikh begehrt Befreiung von Helmpflicht

Der Kläger ist als getaufter Sikh (sogenannter Amritdhari) in der Öffentlichkeit zum Tragen eines Turbans, eines "Dastar", religiös verpflichtet. Weil er nicht gleichzeitig den Turban und einen Motorradhelm tragen könne, beantragte er 2013 bei der Beklagten, ihn nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO von der in § 21a Abs. 2 StVO geregelten Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms beim Führen eines Kraftrads zu befreien. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, eine Ausnahmegenehmigung könne nur erteilt werden, wenn das Tragen eines Helms aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei. Dementsprechend hatte die Beklagte 2011 und 2015 einen anderen Motorradfahrer wegen Genickschmerzen von der Helmpflicht befreit.

VGH: Ablehnung war ermessensfehlerhaft

Die Berufung des Klägers hatte nur teilweise Erfolg. Der VGH erachtete die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigung wegen einer fehlerhaften Ermessensausübung für rechtswidrig, weil die Beklagte nicht deutlich gemacht habe, dass eine Befreiung von der Schutzhelmpflicht nicht nur bei einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen, sondern auch aus religiösen Gründen in Betracht komme. Der Kläger könne auch deshalb von der Beklagten eine neue Entscheidung über seinen Befreiungsantrag verlangen, weil diese erst im Juli 2017 ihre bisherige Verwaltungspraxis aufgegeben habe, nach der bei einer Unmöglichkeit des Tragens eines Helms aus gesundheitlichen Gründen eine Befreiung ohne weitere Voraussetzungen erteilt worden sei. Wenn sie nun vortrage, zukünftig bei Befreiungsanträgen "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich zu hinterfragen", bliebe unklar, was genau sie künftig prüfen wolle. Jedenfalls habe sie im Fall des Klägers eine solche Prüfung bislang auch noch nicht vorgenommen. Für die neue Ermessensentscheidung weist der VGH darauf hin, dass die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesundheitlichen Gründen nicht großzügiger behandelt werden dürfe als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen.

Aber kein zwingender Anspruch auf Befreiung von Helmpflicht

Keinen Erfolg hatte die Berufung, soweit der Kläger geltend machte, die Beklagte sei zwingend verpflichtet, ihm die beantragte Ausnahmegenehmigung zu erteilen. Denn die Erteilung der Befreiung stehe im Ermessen der Beklagten. Laut VGH ist dieses Ermessen im Fall des Klägers auch nicht auf Null reduziert. So sei es entgegen der Ansicht des Klägers verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Schutzhelmpflicht auch im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit eines Motorradfahrers nicht in einem Parlamentsgesetz, sondern in einer Rechtsverordnung (StVO) geregelt sei.

Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter rechtfertigt Eingriff in Glaubensfreiheit

Eine Ermessensreduzierung folge auch nicht aus der Glaubensfreiheit des Klägers (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), so der VGH weiter. Der in der Schutzhelmpflicht liegende Eingriff könne durch den von der Schutzhelmpflicht (auch) bezweckten und zudem in Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter gerechtfertigt werden. Ein durch einen Helm geschützter Motorradfahrer könne im Fall eines Unfalls regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer die Fahrbahn räumen, auf die Unfallstelle aufmerksam machen, Ersthilfe leisten oder Rettungskräfte herbeirufen. Die Schutzhelmpflicht fördere aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schütze auch deren psychische Unversehrtheit. Denn bei Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm bestehe das Risiko solcher psychischer Schäden, da sie häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfverletzungen davontrügen.

Gleichbehandlungsgebot gebietet ebenfalls keine Befreiung

Laut VG ergibt sich eine Reduzierung des behördlichen Ermessens auch nicht aus dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Da eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen jedenfalls nicht schwerer wiegen könne als eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus religiösen Gründen, spreche zwar einiges dafür, dass der Kläger gegenüber der Beklagten angesichts ihrer bisherigen Befreiungspraxis einen Anspruch auf Gleichbehandlung gehabt habe. Die Beklagte habe aber während des laufenden Berufungsverfahrens ihre frühere Verwaltungspraxis willkürfrei aufgegeben und wolle nun vor einer Befreiung "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen". Damit scheide ein Anspruch auf Gleichbehandlung jetzt aus.

Keine Bindung an Entscheidungen der Behörden anderer Orte

Auch der Umstand, dass in Einzelfällen andere Straßenverkehrsbehörden in der Vergangenheit Sikhs aus religiösen Gründen von der Schutzhelmpflicht befreit hätten, vermittle dem Kläger keinen Befreiungsanspruch gegen die Beklagte. Denn diese sei durch solche andernorts getroffenen Einzelfallentscheidungen nicht gebunden. Das Gleichheitsgebot verlange nur, dass die Beklagte in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich gleichmäßig entscheide.

VGH Mannheim, Urteil vom 04.09.2017 - 10 S 30/16

Redaktion beck-aktuell, 4. September 2017.

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