VGH Mannheim: Erstmalige Festsetzung eines Abwasserbeitrages nach mehr als zwei Jahrzehnten kann treuwidrig sein

Zieht eine Gemeinde einen Grundstückseigentümer erst nach Ablauf von mehr als 20 Jahren erstmals zu den Kosten des Anschlusses seines Grundstücks an eine öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage heran, weil sie es versäumt hat, eine als nichtig erkannte Abwassersatzung durch eine gültige Satzung zu ersetzen, verstößt dies gegen Treu und Glauben und ist unzulässig. Dies hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim mit Urteil vom 12.07.2018 entschieden (Az.: 2 S 143/18).

Seit Jahreswende 1989/1990 an öffentlichen Abwasserkanal angeschlossen

Der Kläger ist Eigentümer zweier Grundstücke im Innenbereich der beklagten Gemeinde, welche ursprünglich nicht an das öffentliche Abwasserentsorgungsnetz der Gemeinde angeschlossen waren, sondern jedenfalls seit 1960 über eine abflusslose Abwassergrube verfügten. Mit dem Inkrafttreten der Abwassersatzung der Gemeinde vom 25.07.1984 durften abflusslose Abwassergruben im Gemeindegebiet nicht mehr betrieben werden, weil seitdem im Prinzip ein Anschluss an eine öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage möglich ist. Auch das Grundstück des Klägers ist jedenfalls seit der Jahreswende 1989/1990 an den öffentlichen Abwasserkanal angeschlossen. 

Abwasserbeitragsbescheid erstmals 2013 erlassen

Ein Abwasserbeitragsbescheid, mit dem die beklagte Gemeinde ihren Aufwand für die Herstellung der Abwasserbeseitigungsanlage gegenüber dem Kläger gemäß ihrer Abwassersatzung vom 25.07.1984 hätte abrechnen können, erging jedoch nicht. Denn seit 1991 war der Gemeinde bekannt, dass ihre – formell bis zum 30.09.2012 weitergeltende - Abwassersatzung vom 25.07.1984 wegen Kalkulationsfehlen aus inhaltlichen Gründen unwirksam ist und auf ihrer Basis keine Beitragspflicht entstehen kann. Erst am 25.07.2012 beschloss die Gemeinde eine neue, seit dem 01.10.2012 geltende Abwassersatzung. Auf der Grundlage dieser Satzung erließ die Beklagte erstmals am 15.08.2013 gegenüber dem Kläger einen Abwasserbeitragsbescheid für den Anschluss seiner Grundstücke an die öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage in Höhe von 7.395,90 Euro.

VG: Beitragserhebung nicht treuwidrig

Die Gemeinde machte unter anderem geltend, trotz der späten Beitragsfestsetzung sei die Beitragspflicht kommunalabgabenrechtlich noch nicht verjährt, weil die Beitragspflicht (erst) mit der aktuell zum 01.10.2012 in Kraft getretenen Abwassersatzung entstanden sei und die vierjährige Festsetzungsfrist noch laufe. Der Kläger trug gegenüber der Beklagten sowie im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht unter anderem vor, seine Heranziehung nach so langer Zeit verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit und sei darüber hinaus treuwidrig. Das VG wies die Anfechtungsklage des Klägers ab und hielt die Beitragserhebung für die rund 24 Jahre zurückliegende Anschlussmöglichkeit an die öffentliche Abwasserbeseitigung für nicht treuwidrig. Dagegen legte der Kläger Berufung ein.

VGH: Beitragsfestsetzung zwar noch nicht verjährt

Die Berufung hatte Erfolg. Der VGH hat die VG-Entscheidung geändert und den Abwasserbeitragsbescheid aufgehoben. Der VGH bestätigte dabei zunächst die Rechtsauffassung der Beklagten und des VG, dass die späte Festsetzung des Abwasserbeitrags noch nicht verjährt sei, weil die Verjährungsfrist (§ 3 Abs. 1 Nr. 4c KAG in Verbindung mit § 169, § 170 AO) an das Beststehen einer wirksamen Satzung anknüpfe und eine solche Satzung erst seit dem 01.10.2012 in Kraft gesetzt worden sei. 

Aber Verstoß gegen Grundsatz der Belastungsklarheit und -Vorhersehbarkeit 

Die späte Heranziehung des Klägers zu einem Abwasserbeitrag verstoße aber gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -Vorhersehbarkeit, so der VGH weiter. Denn dieser vom BVerfG in der Entscheidung vom 05.03.2013 (BeckRS 2013, 48689) entwickelte Grundsatz verlange, dass ein Beitrag, mit dem ein vom Bürger in Anspruch genommener Anschlussvorteil abgerechnet werde, nicht zeitlich unbegrenzt nach der Erlangung dieses Vorteils festgesetzt werden dürfe. Das BVerfG habe hierfür ausdrücklich den Gesetzgeber in die Pflicht genommen, der eine gesetzliche Höchstgrenze für die Heranziehung zu einem Beitrag bestimmen müsse. Das baden-württembergische Kommunalabgabengesetz (KAG) sehe eine solche Höchstgrenze derzeit aber nicht vor. Insoweit unterliege das KAG daher verfassungsrechtlichen Bedenken, weshalb der Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert sei.

Verstoß gegen Treu und Glauben

Laut VGH kommen die verfassungsrechtlichen Bedenken im Falle des Klägers aber nicht entscheidungserheblich zum Tragen, denn dessen Heranziehung zu einem Abwasserbeitrag verstoße unabhängig von der verfassungsrechtlichen Problematik aufgrund der vorliegenden Umstände des Einzelfalls auch gegen den im Verwaltungsrecht allgemein geltenden Grundsatz von Treu und Glauben. Danach könne die Ausübung eines Rechtes unzulässig sein, wenn dem Berechtigten eine Verletzung eigener Pflichten zur Last falle und die Ausübung seines Rechtes aufgrund dieser Pflichtverletzung treuwidrig erscheine. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt, weil die Beklagte es seit 1991 pflichtwidrig unterlassen habe, die als nichtig erkannte Abwassersatzung 1984 durch eine gültige Abwassersatzung zu ersetzen. Aber auch schon zuvor sei die Beitragserhebung – auf der Grundlage der Abwassersatzung 1984 – in einer Vielzahl von Fällen nicht nach den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien erfolgt. Schließlich könne nach den lückenhaft dokumentierten Unterlagen der Beklagten auch nicht sicher ausgeschlossen werden, dass für die Grundstücke des Klägers nicht schon einmal Abwasserbeiträge bezahlt worden seien.

VGH Mannheim, Urteil vom 12.07.2018 - 2 S 143/18

Redaktion beck-aktuell, 8. August 2018.