Coronabedingtes Abschiebungsverbot nach Afghanistan für alleinstehende Männer

Derzeit darf auch ein alleinstehender Mann nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, wenn es ihm dort wegen der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie voraussichtlich nicht gelingen wird, auf legalem Weg seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg am 17.12.2020 entschieden.

Andere Bewertung bei besonderen begünstigenden Umständen

Anderes gilt nach Ansicht des Gerichts dann, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorliegen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Rückkehrer in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Damit hat die Klage eines Asylbewerbers in der Berufungsinstanz insoweit Erfolg, als es um die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf Afghanistan geht.

Senat hält vorerst nicht an bisheriger Rechtsprechung fest

Im konkreten Fall war der aus Afghanistan stammende Kläger im Frühjahr 2016 ins Bundesgebiet eingereist und hatte hier einen Asylantrag gestellt. Seine gegen den ablehnenden Asylbescheid erhobene Klage hatte das Verwaltungsgericht Sigmaringen abgewiesen. Im hierauf durchgeführten Berufungsverfahren ging es allein um die Frage, ob der Kläger nach Afghanistan abgeschoben werden darf oder ob für ihn ein Abschiebungsverbot besteht. Der VGH hat im Berufungsverfahren in einer mehrstündigen mündlichen Verhandlung eine Sachverständige zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere in der Hauptstadt Kabul, befragt. Hierzu hatte die Sachverständige dem Senat zuvor bereits ein schriftliches Gutachten vorgelegt. In seinem Urteil hält Senat zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach einem leistungsfähigen, erwachsenen Mann - unabhängig davon, ob er vor Ort über ein aufnahmebereites und tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk verfügt - in Afghanistan in der Regel nicht die Verelendung droht.

Sicherung der eigenen Existenz in Afghanistan in Corona-Zeiten ungewiss

Nach Würdigung der Ausführungen der Sachverständigen und Auswertung einer Vielzahl von Erkenntnismitteln ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass sich inzwischen die wirtschaftliche Lage in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie derart verschlechtert hat, dass ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland keine realistische Aussicht hat, auf dem Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden, sofern er nicht vor Ort über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das ihm Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. Ohne die Erzielung eines Erwerbseinkommens und ohne versorgendes Netzwerk oder ausreichendes Vermögen sei die Sicherung der eigenen Existenz in Afghanistan indes nicht möglich. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers sei der Senat nach diesen Maßstäben zu der Überzeugung gelangt, dass in seinem Fall ein Abschiebungsverbot festzustellen ist. 

Revision nicht zugelassen

Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Das ebenfalls am 15.12.2020 verhandelte Verfahren eines weiteren Klägers (Az.: A 11 S 2091/20) ist bereits durch Einstellungsbeschluss vom 18.12.2020 erledigt, nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben.

VGH Mannheim, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20

Redaktion beck-aktuell, 4. Februar 2021.