0,05 Punkte oder auch ein 20stel Notenpunkt: So viel fehlte einer Kandidatin nach der mündlichen Prüfung im zweiten Staatsexamen zum begehrten "VB" – der Note "vollbefriedigend", die so viele Türen öffnet. Für manche mag das ein Luxusproblem sein und man könnte die Inzwischen-Volljuristin mit guten Argumenten darauf verweisen, dass ihr mit dieser Note immer noch viele Türen offenstehen.
Doch wer selbst einmal durch die Mühlen der juristischen Ausbildung gegangen ist und den Notendruck und auch den Notenfetisch der juristischen Berufswelt kennt, der wird sich den Frust und die Verzweiflung vorstellen können, die die Juristin nach der Notenbekanntgabe gequält haben müssen. Sie klagte am Ende sogar vor dem VG Wiesbaden gegen die Prüfungsentscheidung, doch auch dort hatte man kein Einsehen: Es blieb – vorbehaltlich eines Verbesserungsversuchs – bei 8,95 Punkten (Urteil vom 27.05.2025 – 7 K 298/25.WI).
Durchweg zweistellige Stations- und AG-Noten
Im Vorbereitungsdienst hatte die Nachwuchsjuristin einiges an Meriten gesammelt – sämtliche Stations- und AG-Zeugnisse wiesen teils deutlich zweistellige Noten aus, die Wahlstation sogar mit 16 Punkten ein "sehr gut". Nachdem sich dann in den Klausuren zwischen fünf und elf Punkten ein notentechnisches Auf und Ab gezeigt hatte, trat die Kandidatin zur mündlichen Prüfung an, die traditionell auch nach weniger gut gelaufenen Klausurdurchgängen einen erheblichen Notensprung ermöglichen kann.
So jedoch nicht in diesem Fall, obwohl sie offenbar im Großen und Ganzen zu überzeugen wusste: Elf Punkte im Kurzvortrag, und im Prüfungsgespräch zehn Punkte im Zivilrecht, 13 im Strafrecht sowie zwölf im Öffentlichen Recht zeichnen ein erfreuliches Leistungsbild – nur eben eines, dessen rechnerisches Endergebnis bei 8,95 Punkten lag, denkbar knapp unter der durchaus realistischen Traumnote.
Nun ist die Notenbildung kein rechnerischer Automatismus und auch die jeweiligen Einzelnoten werden meist – so viel darf man unterstellen – mit einem Auge auf das Gesamtergebnis gegeben. Und viele Prüferinnen und Prüfer zeigen sich hier großzügig, wohl wissend, dass die Klausurergebnisse nicht immer das wahre Leistungslevel der Kandidatinnen und Kandidaten widerspiegeln und sich zudem oftmals dem Vorwurf einer etwas willkürlichen Bewertung ausgesetzt sehen. Angesichts der enormen Bedeutung der Endnote für die berufliche Laufbahn sind in der mündlichen Prüfung dementsprechend die Kommissionen häufig geneigt, mal ein Auge zuzudrücken.
Dieses Auge-Zudrücken ist sogar gesetzlich normiert, im hier einschlägigen hessischen Recht etwa in § 51 Abs. 3 S. 1 JAG: "Für die Bildung der Abschlussnote kann der Prüfungsausschuss die rechnerisch ermittelte Punktzahl der Prüfungsnote um bis zu 1 Punkt anheben, wenn dies aufgrund des Gesamteindrucks den Leistungsstand der Bewerberin oder des Bewerbers besser kennzeichnet und die Abweichung auf das Bestehen keinen Einfluss hat; hierbei sind auch die Leistungen im Vorbereitungsdienst zu berücksichtigen." Das heißt: Auch, wenn einmal kein Kraut gegen die Einzelnoten gewachsen sein sollte, bietet das Gesetz die Möglichkeit, gute Leistungen im Referendariat zu würdigen und so doch noch einen Notensprung zu ermöglichen.
Sind Stationsnoten nicht viel wert?
Hier jedoch entschied sich die Prüfungskommission, keine Notenanhebung vorzunehmen, was die Kandidatin angesichts ihrer durchaus respektablen Stations- und AG-Noten nicht verstehen konnte. Diese rechtfertigten für sich genommen aber keine Anhebung, meinte die Kommission, denn die Noten aus AGs und Einzelausbildungen lägen bei nahezu allen Referendarinnen und Referendaren regelmäßig deutlich über den Noten in den Examensklausuren. Das Leistungsbild der Kandidatin werde daher trotz allem durch ihre befriedigende Note gut abgebildet. Schließlich sei sie in sechs von acht Klausuren unter der rechnerischen Endnote von 8,95 Punkten geblieben. Zwar liege der Notenschnitt in der mündlichen Prüfung deutlich über dem Schnitt der Klausuren; bloß deshalb dürfe man aber die mündliche Prüfung nicht überbewerten, indem man mit ihr größere Notensprünge bezwecke.
Die Kandidatin legte daraufhin Widerspruch gegen die Benotung ein, dem das Prüfungsamt jedoch nicht abhalf. Den Prüferinnen und Prüfern stehe bei der Vergabe der Einzelnoten und auch bei der Frage der Notenanhebung eben ein Beurteilungsspielraum zu, so hieß es in der Begründung, den diese nachvollziehbar ausgeschöpft hätten.
Schließlich klagte die Juristin gegen den Bescheid und forderte eine Anhebung ihrer Endnote um 0,05 auf insgesamt 9,00 Punkte. Der Gesamteindruck rechtfertige dies und ein "VB" entspreche ihrem Leistungsstand besser. Sie habe den Notenbereich "vollbefriedigend" schließlich nur äußerst knapp verfehlt. Außerdem sei es keineswegs so, dass die Stations- und AG-Noten aufgrund der dort regelmäßig höheren Punktzahl nicht ernst zu nehmen seien. Es entspreche vielmehr der gesetzgeberischen Wertung, dass hohe Noten im Vorbereitungsdienst bei der Notenvergabe im Examen honoriert werden sollten. Die Stationen erstreckten sich zudem über einen längeren Zeitraum und gäben daher einen besonders guten Überblick über die Leistungsentwicklung der Kandidatinnen und Kandidaten.
VG: Entscheidung ursprünglich rechtswidrig, aber im Ergebnis korrekt
Doch auch das VG Wiesbaden hatte kein Einsehen mit der Juristin: Es bleibe bei der bekanntgegebenen Note, entschied das Gericht. Zwar habe die Kommission in der Tat ein Ermessen auszuüben, wenn sie über eine Notenanhebung entscheide, so das VG. "Die Klägerin ist allerdings der Auffassung, dass ein Verzicht auf eine Notenanhebung in ihrem Fall die gesetzlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums verletzt." Dem vermöge man nicht zu folgen: "Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Notenanhebung ist vielmehr durch Erfüllung untergegangen, indem sich die Prüfungskommission im Überdenkungsverfahren in nicht zu beanstandender Weise mit der Frage der Notenanhebung befasst hat."
Ohnehin sei die Ermessensentscheidung der Prüfungskommission gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar und im Wesentlichen auf die Kontrolle beschränkt, "ob diese wissenschaftlich-pädagogische Beurteilung auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage unter Beachtung allgemeingültiger Bewertungsgrundsätze und zwingender Prüfungsvorschriften sowie frei von sachfremden Erwägungen und Willkür getroffen worden ist".
Dabei gab das Gericht zu, dass die erste Notenbekanntgabe in der Tat rechtswidrig gewesen sei, weil der Kommission das am Ende mit 16 Punkten benotete Wahlstationszeugnis an diesem Tag noch gar nicht vorgelegen habe. Dies hätte sie aber abwarten müssen, um eine fundierte Entscheidung über die Notenanhebung zu treffen. Allerdings habe das Prüfungsamt das Zeugnis im Rahmen der Prüfung des Widerspruchs in seine Entscheidung einbezogen und diese damit geheilt. Auch sonst habe es alle erheblichen Gesichtspunkte wie die Vor- und Klausurnoten und die Leistungen am Prüfungstag gewürdigt und hierbei ein "gemischtes Leistungsbild der Klägerin" vorgefunden, das ein "vollbefriedigend" am Ende jedenfalls nicht zwingend erscheinen lasse.