Unionsbürger verliert Aufenthaltsrecht wegen unangemessenen Bezugs von Grundsicherung

Zur Verhinderung einer dauerhaften Inanspruchnahme der Sozialhilfesysteme kann das Recht auf Einreise und Aufenthalt eines EU-Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland auch unter Berücksichtigung familiärer Bindungen verloren gehen. Dies entschied das Verwaltungsgericht Mainz zulasten eines über 70 Jahre alten Polen, der 2019 nach Deutschland zur nach seinen Angaben ihn pflegenden Tochter reiste und seit Mitte 2020 Leistungen zur Grundsicherung im Alter bezog.

Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt

Der beklagte Landkreis stellte in dem vom Gericht mitgeteilten Fall mit einem Bescheid den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – Freizügigkeitsgesetz – fest. Zugleich wurde ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt und für den Fall der Fristversäumung die Abschiebung angedroht. Der Mann erhob nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage und machte geltend, die ausländerrechtliche Verfügung lasse seine schwere Erkrankung und die deshalb notwendige Pflege durch die in Deutschland lebende Tochter außen vor. Mangels weiterer Bezugspersonen in Polen bestehe nur noch eine soziale Verwurzelung zu seiner Tochter, argumentierte der Kläger.

VG: Keine Freizügigkeitsberechtigung

Das VG wies die Klage ab. Der Kläger sei als polnischer Staatsangehöriger zwar Unionsbürger und damit der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes gegeben. Ein nach diesem Gesetz für Unionsbürger eröffnetes Freizügigkeitsrecht könne der Kläger für sich jedoch nicht in Anspruch nehmen, so das Gericht. Deshalb sei der Beklagte berechtigt gewesen, den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festzustellen.

Weder Krankenversicherung noch Existenzmittel - Keine finanzielle Hilfe von Tochter 

Denn der Kläger halte sich nicht als Arbeitnehmer im Bundesgebiet auf und sei als Nichterwerbstätiger weder ausreichend krankenversichert noch stünden ihm aufgrund des Bezugs von Grundsicherung ausreichende Existenzmittel zur Verfügung, stellte das VG dazu fest. Mit Blick auf sein Lebensalter und die geltend gemachte Pflegebedürftigkeit könne auch nicht von einer nur vorübergehenden Inanspruchnahme von Sozialleistungen ausgegangen werden. Ein Freizügigkeitsrecht des Klägers besteht laut VG auch nicht als Familienangehöriger seiner in Deutschland lebenden Tochter. Nach dem Klagevorbringen sei nicht ersichtlich, dass diese den Kläger regelmäßig (zu einem beachtlichen Teil) bei den Kosten zum Lebensunterhalt unterstütze. Denn der Kläger erhalte Sozialleistungen auch für Unterkunft und Heizung, also auch für ihm von der Tochter zur Verfügung gestellten Wohnraum. Nicht näher dargelegt sei zudem, welche tatsächlichen Pflegeleistungen die Tochter ihm gegenüber erbringe, zumal eine weitere Tochter in Deutschland wohnhaft sei, gab das Gericht zu bedenken. Ferner verfüge der Kläger auch nicht über ein Daueraufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz, weil er sich noch nicht fünf Jahre ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe.

Unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen

Laut VG hat der Landkreis auch ermessensfehlerfrei den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers festgestellt. Unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Regelungen führe der Bezug von Sozialleistungen durch einen EU-Ausländer zwar nicht automatisch zu einem Verlust seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat. Erforderlich sei vielmehr eine "unangemessene" Inanspruchnahme von Sozialleistungen, um eine Überlastung des nationalen Sozialhilfesystems in seiner Gesamtheit zu verhindern.

Sicherung des Sozialhilfesystems überwiegt familiäre Bindungen

Diesem hier gegebenen Belang habe der Beklagte den Vorzug vor den familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet geben dürfen, so die Richter, ohne dass insoweit ein unverhältnismäßiges Vorgehen anzunehmen wäre. Die behauptete Entwurzelung des Klägers in seinem Heimatland, in dem er ebenfalls medizinisch und pflegerisch betreut werden könne, werde angesichts der dort verbrachten Jahrzehnte und der nur kurzen Aufenthaltsdauer in Deutschland ohne Kenntnis der deutschen Sprache als fernliegend angesehen. Demgegenüber bestehe auch in Zukunft weiterhin ein Sozialhilfebedarf für die gesamten Lebenshaltungskosten des Klägers, der angesichts seiner zunehmenden Pflegebedürftigkeit erwartungsgemäß zu einer anwachsenden Belastung des hiesigen Sozialsystems führen werde.

VG Mainz, Urteil vom 12.08.2022 - 4 K 569/21

Gitta Kharraz, 7. September 2022.