Kopftuch als Ausdruck individueller Glaubenszugehörigkeit
Die Klägerin ist eingebunden in die Bewilligung von Jugendhilfen für Kinder und Jugendliche aus problematischen Familienverhältnissen. Seit circa sechs Jahren trägt sie als Ausdruck ihrer individuellen Glaubenszugehörigkeit ein Kopftuch. Am 30.11.2015 beantragte sie die Genehmigung, während des Dienstes ein Kopftuch tragen zu dürfen.
Stadt geht von Kundgabe einer religiösen Auffassung aus
Mit Bescheid vom 20.05.2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie berief sich auf die Neutralitätspflicht für Beamte. Das islamische Kopftuch stelle sich als Kundgabe einer religiösen Auffassung dar. Da die Klägerin in ihrer derzeitigen Tätigkeit hoheitliche Aufgaben mit Außenwirkung (hier: Publikumsverkehr) wahrnehme, sei das Tragen des Kopftuches objektiv dazu geeignet, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen. Es bestünden aber keine Bedenken dagegen, dass die Klägerin das Kopftuch vor und nach dem Dienst und etwa während Fortbildungen oder Personalversammlungen trage.
Widerspruch zurückgewiesen
Ein von der Stadt unterbreitetes Angebot einer gleichwertigen Tätigkeit in einem Einsatzbereich anzubieten, in dem das Tragen des Kopftuches unproblematisch sei, lehnte die Klägerin ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2017 wies die Beklagte den Widerspruch der Frau zurück.
Uneinigkeit über Umfang des Publikumsverkehrs
In ihrer darauf erhobenen Klage verwies die Frau auf den geringen Umfang des Publikumsverkehrs. Der Kontakt der Sachbearbeiter der wirtschaftlichen Jugendhilfe zu den Antragstellern erfolge überwiegend über die Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Im Übrigen verlaufe die Kommunikation in der Regel über Telefon oder per E-Mail. Die Stadt hielt dem entgegen, dass in der Abteilung der Klägerin täglich eine Stunde Sprechstunde sei, zusätzlich 1,5 weitere Stunden am Mittwochnachmittag. Darüber hinaus seien die Öffnungszeiten montags bis donnerstags von 8 Uhr bis 17 Uhr und freitags von 8 Uhr bis 13 Uhr. Die Klägerin sitze in einem Doppelzimmer mit offener Verbindungstür zum Nachbarzimmer. Alle Mitarbeiter hätten Kundenkontakt und empfingen die Bürger während der Öffnungszeiten und bearbeiteten deren Anträge, dies auch in Vertretung.
VG: Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit
Das VG hat der Klage jetzt mit der Begründung stattgegeben, dass die Voraussetzungen des § 45 S. 1 und 2 HBG, auf den die Beklagte die ablehnende Entscheidung gestützt hat, nicht erfüllt sind. Das Verbot, ein Kopftuch während des Dienstes zu tragen, stelle einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dar. Denn dadurch werde die Klägerin vor die Wahl gestellt, entweder ihr Amt im konkret-funktionellen Sinne auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten.
Negative Glaubensfreiheit der Bürger betroffen
Eine Beeinträchtigung der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Bürger, die mit der Kopftuch tragenden Klägerin konfrontiert würden, erscheine möglich. Es handele sich bei dem Kopftuch um ein "ostentatives" Zeichen, das den Wahrnehmenden zu einer entsprechenden Reaktion bewege. Ausgehend von diesen Erwägungen sei das von der Klägerin getragene Kopftuch objektiv geeignet im Sinn des § 45 S. 2 HBG, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den religiösen Frieden zu gefährden. Der Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin wiege aber schwer, da sie die Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebots geltend mache.
Individualsphäre der Klägerin betroffen
Die Beklagte habe der Klägerin zwar eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit in Aussicht gestellt. Die Dienstpflichten hinsichtlich des islamischen Kopftuchs stellten sich allerdings nicht lediglich als innerorganisatorische Maßnahme dar, sondern berührten die Individualsphäre der Klägerin erheblich. Demgegenüber sei der mittelbare Eingriff in die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Bürger von geringerem Gewicht, da der Staat das von der Klägerin zur Schau gestellte religiöse Symbol lediglich toleriere und sich nicht erkennbar hiermit identifiziere oder das Verhalten der Klägerin anderweitig positiv werte. Die abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität wiederum resultiere vor allem aus der polarisierenden Wirkung des Kopftuchs beziehungsweise dessen kontroversem Symbolgehalt. Diese Bedeutungsdimensionen seien der Klägerin als einzelner Grundrechtsträgerin jedoch nicht zuzurechnen, solange sie nicht die Bürger, mit denen sie dienstlich zu tun habe, von ihrem Glaubensverständnis zu überzeugen suche.
Gericht verneint Verletzung der Neutralitätspflicht
Auf der Grundlage der gebotenen einschränkenden Auslegung sei im Fall der Klägerin keine Neutralitätspflichtverletzung zu besorgen, betonte das Gericht. Die Stadt habe keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Grundrechte Dritter oder die staatliche Neutralität im Tätigkeitsbereich der Klägerin vorgetragen und solche seien auch sonst nicht ersichtlich.
Publikumsverkehr nicht entscheidendes Kriterium
Es bedürfe auch keiner weiteren gerichtlichen Aufklärung hinsichtlich des im Detail streitigen Umfangs des Publikumsverkehrs im Tätigkeitsbereich der Klägerin. Das von der Stadt herangezogene Kriterium, dass es sich um einen Aufgabenbereich mit Publikumsverkehr handele, sei von vornherein ungeeignet. Das Kriterium des Publikumsverkehrs ermögliche lediglich eine Abgrenzung von Verhaltensweisen ohne Außenbezug, bei denen es aber ohnehin von vornherein an der objektiven Eignung zur Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität fehlen dürfte.