Bleiberecht "faktischen Inländers"

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht die Gefährderabschiebung eines Mannes aus Göttingen mit türkischer Staatsangehörigkeit gekippt hatte, wies die Stadt ihn aus. Dem hiergegen gerichteten Eilantrag hat das Verwaltungsgericht Koblenz nun stattgegeben. Die Ausweisung des einen erhöhten Ausweisungsschutz genießenden Antragstellers sei nicht unerlässlich für die Wahrung der Grundinteressen der Gesellschaft.

BVerwG hob Gefährder-Abschiebungsanordnung auf

Mit Urteil vom 14.01.2020 (BeckRS 2020, 7074) hatte das BVerwG die auf § 58a AufenthG gestützte (Gefährderabschiebung) Abschiebungsanordnung des niedersächsischen Innenministeriums aufgehoben. Das Ministerium war davon ausgegangen, dass der Antragsteller, der im Sommer 2018 nach Göttingen gezogen war, wegen seines Umgangs mit Angehörigen der radikal-salafistischen Szene selbst radikalisiert worden sei. Das BVerwG hatte demgegenüber keine hinreichenden Tatsachen für die Annahme gesehen, dass es sich bei dem Antragsteller um einen islamistischen Gefährder handele.

Stadt verfügte Ausweisung und Meldepflicht

Am Tag der Urteilsverkündung wies nunmehr die Stadt Göttingen als allgemein zuständige Ausländerbehörde den Antragsteller auf Grundlage der §§ 53 bis 55 AufenthG aus Deutschland aus und verfügte ergänzend eine Meldepflicht sowie die sofortige Vollziehbarkeit der Entscheidungen. Die Stadt Göttingen begründete die Ausweisung im Wesentlichen mit der Straffälligkeit des Antragstellers und seiner besonderen Gefährlichkeit. Sein Interesse am Verbleib in Deutschland müsse dagegen zurücktreten. Dagegen hat der Antragsteller Klage erhoben. Zudem begehrte er vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz.

VG: Antragsteller genießt erhöhten Ausweisungsschutz

Das VG hat dem Eilantrag stattgegeben. Die Ausweisung des Antragstellers sei nach summarischer Prüfung rechtswidrig. Der Antragsteller könne sich auf den erhöhten Ausweisungsschutz für bestimmte türkische Staatsangehörige nach § 53 Abs. 3 AufenthG berufen. Dieser nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei bestehende Ausweisungsschutz erfordere es, dass die Ausweisung für die Wahrung der Grundinteressen der Gesellschaft unerlässlich sein muss.

Zwar konkrete Gefahr künftiger Straftaten

Es gebe zwar einen Ausweisungsanlass, weil vom Antragsteller die konkrete Gefahr ausgehe, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen werde. Das VG stützt diese Einschätzung auf die bisher vom Antragsteller begangenen Straftaten und sein aktenkundiges Persönlichkeitsbild.

Ausweisung aber nicht unerlässlich

Laut VG überwiegt das Ausweisungsinteresse aber nicht das Bleibeinteresse des Antragstellers. Die Ausweisung sei nicht unerlässlich. Der Antragsteller sei bislang nur zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung, die nicht widerrufen worden sei und schon über sieben Jahre zurückliege, und zu Geldstrafen verurteilt worden. Er sei in Deutschland geboren, habe immer über ein – seit 2006 unbefristetes – Aufenthaltsrecht verfügt und sei in Deutschland verwurzelt. Seine gesamte türkischstämmige Familie und ein minderjähriges Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit lebten in Deutschland. Sein Bleibeinteresse als sogenannter faktischer Inländer wiege deshalb in der Gesamtabwägung besonders schwer und überwiege im Ergebnis das Ausweisungsinteresse.  

VG Göttingen, Beschluss vom 22.12.2020 - 1 B 13/20

Redaktion beck-aktuell, 5. Januar 2021.