EU-Kommission: Vernichtendes Urteil für den Rechtsstaat in Ungarn und Polen

Der Rechtsstaat in Ungarn und Polen ist nach einer Analyse der EU-Kommission akut in Gefahr. Die für die Einhaltung von EU-Standards zuständige Behörde stellte beiden Ländern verheerende Zeugnisse aus, insbesondere in den Bereichen Unabhängigkeit der Justiz, Medienvielfalt und Korruption. Dies sei aktuell nicht zuletzt wegen der Außenwirkung der EU problematisch, betont Vizepräsidentin Vera Jourova. Deutschland stehe grundsätzlich gut da, doch auch hier gebe es Verbesserungsbedarf.

Ungarn eines der "Rechtsstaat-Sorgenkinder" in der EU

In Ungarn bestünden zudem nach wie vor Unzulänglichkeiten mit Blick auf Lobbyismus, den Wechsel von Politikerinnen und Politikern in die Wirtschaft sowie die Parteien- und Wahlkampffinanzierung. Unabhängige Kontrollmechanismen reichten nicht aus, um Korruption aufzudecken. Die zuständige Behörde beschreibt ein "Umfeld, in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden". Weiter flössen große Teile staatlicher Werbung in regierungsnahe Medien. Die EU-Kommission wirft der Regierung von Viktor Orban außerdem vor, von ihren Befugnissen während des Corona-Notstands "ausgiebig Gebrauch" gemacht zu haben - auch in Bereichen, die nicht in Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Ungarn gehört seit Jahren zu den Rechtsstaat-Sorgenkindern in der EU. Wegen mutmaßlicher Missachtung von EU-Grundwerten läuft ein Verfahren nach Art. 7 EUV gegen das Land. Schließlich wurde auch der sogenannten Rechtsstaatsmechanismus ausgelöst, durch den die Kürzung von EU-Mitteln droht.

Ernste Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Justiz

Auch gegen Polen läuft ein Verfahren nach Art. 7 EUV und der EuGH hat polnische Justiz-Gesetze mehrfach kassiert. Zuletzt machte die nationalkonservative Regierung zwar einen Schritt auf ihre Kritiker zu. Doch die EU-Kommission sieht weiter "ernste Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Justiz". Polen habe zwar bestimmte Reformen zugesagt. Ernsthafte Bedenken mit Blick auf die Unabhängigkeit des Nationalen Rats für das Justizwesen müssten jedoch noch ausgeräumt werden. Auch sieht die EU-Kommission deutliche Unzulänglichkeiten im Kampf gegen Korruption, eine Gefahr für die Medienvielfalt und die Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Medien.

Probleme in etlichen Staaten schlecht für die Außenwirkung

EU-Kommissionsvize Jourova verwies darauf, dass die Situation in der EU auch wegen der Außenwirkung problematisch ist. Die EU sei mit ihren Bemühungen, den Rechtsstaat in der von Russland angegriffenen Ukraine zu verteidigen, nur dann glaubwürdig, wenn das eigene Haus in Ordnung sei, sagte sie. Doch davon sind etliche Länder teils weit entfernt. So sei etwa die wahrgenommene Unabhängigkeit der Justiz in Kroatien und der Slowakei sehr niedrig. In Bulgarien seien Lobbying und der Schutz von Whistleblowern bislang nicht angemessen geregelt, und in Österreich gebe es Probleme mit Blick auf eine mögliche politische Einflussnahme bei der Besetzung von Management- und Vorstandsposten öffentlich-rechtlicher Medien. Auch bei Rumänien meldet die EU-Kommission Bedenken hinsichtlich des Justizsystems. 

Gute Noten für Deutschland - allerdings mit Abstrichen

Deutschlands Rechtsstaat steht nach Ansicht der EU-Kommission gut da. Die Unabhängigkeit der Justiz werde weiter als sehr hoch wahrgenommen und Deutschland genieße ein hohes Level an Medienfreiheit und -vielfalt. Doch übt die Behörde auch Kritik: So müssten Richterinnen und Richter angesichts einer bevorstehenden Pensionierungswelle besser bezahlt werden. Dabei gehe es auch um die Attraktivität des Berufs. Verbesserungsbedarf bestehe zudem beim Wechsel von Politikerinnen und Politikern in die Wirtschaft. Die sogenannte Abkühlphase für Bundesministerinnen und -minister und parlamentarische Staatssekretärinnen und -sekretäre nach ihrer Tätigkeit in der Politik müsse länger sein. Auch die Verfahren zur Genehmigung neuer Jobs hochrangiger Beamtinnen und Beamter müssten transparenter sein. Zudem müssten die Bemühungen, Lobbyarbeit bei der Arbeit an neuen Gesetzen transparenter zu machen, fortgesetzt werden.

Europaparlament fordert Sanktionen

Das Europaparlament fordert von der EU-Kommission schon länger, mehr Druck auf Rechtsstaatsünder zu machen. "Die Rechtsstaatsverstöße in Polen und Ungarn müssen finanziell sanktioniert werden", sagte der Grünen-Politiker Daniel Freund. "Wir wissen mittlerweile ganz genau, wie kaputt Demokratie und Rechtsstaat in beiden Ländern sind." Auch der FDP-Abgeordnete Moritz Körner betonte: "Die Zeit ist mehr als reif für Konsequenzen" Die EU-Mittel für Ungarn müssten sofort zurückgehalten werden. Katarina Barley (SPD) forderte von der EU-Kommission mit Blick auf Polen und Ungarn eine klarere Sprache. Nun müsse sie nachverfolgen, ob Warschau und Budapest die Empfehlungen umsetzen - andernfalls solle sie dies durch finanziellen Druck oder Vertragsverletzungsverfahren durchsetzen.

Redaktion beck-aktuell, 14. Juli 2022 (dpa).