VerfGH Thüringen: Vorschaltgesetz zur Thüringer Gebietsreform formell verfassungswidrig

Das Vorschaltgesetz zur Durchführung der Gebietsreform in Thüringen vom 02.07.2016 ist wegen eines formellen Fehlers im Anhörungsverfahren des Landtages verfassungswidrig und nichtig. Dies hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 09.06.2017 entschieden (Az.: VerfGH 61/1).

VerfGH: Verstoß gegen Anhörungspflicht

Laut VerfGH ist das Vorschaltgesetz wegen Verstoßes gegen Art. 91 Abs. 4 der Thüringer Verfassung formell verfassungswidrig. Nach dieser Vorschrift sei Gemeinden, Gemeindeverbänden oder deren Zusammenschlüssen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor ein Gesetz beschlossen werde, das sie betreffende allgemeine Fragen regle. Zu dieser Anhörungspflicht gehöre, dass alle aufgrund der Anhörung erlangten Informationen den Abgeordneten vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Am 09.06.2016 habe die mündliche Anhörung der kommunalen Spitzenverbände vor dem Innen- und Kommunalausschusses des Thüringer Landtags stattgefunden. Das Protokoll über diese Anhörung habe den Abgeordneten jedoch vor der Abstimmung über den Gesetzesentwurf am 23.06.2016 nicht zur Verfügung gestanden.

Drei-Stufen-Modell

Die Thüringer Verfassung gebiete, dass Gebiets- und Bestandsänderungen von Gemeinden und Landkreisen nur nach einer Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften und nur aus Gründen des öffentlichen Wohls zulässig sind (Art. 92 ThürVerf). Diese Anforderungen konkretisiert der VerfGH anhand eines Drei-Stufen-Modells. Die erste Stufe umfasse den Entschluss, überhaupt eine grundlegende Umgestaltung der kommunalen Ebene vorzunehmen. Auf der zweiten Stufe gehe es um die Leitbilder und Leitlinien der Neuordnung, die die künftige Struktur der Selbstverwaltungskörperschaften festlegten und die Umgestaltung in jedem Einzelfall dirigieren sollen. Auf der dritten Stufe erfolge die Umsetzung der allgemeinen Leitbilder und Leitlinien im konkreten einzelnen Neugliederungsfall. Dieses Stufenmodell diene der besseren Strukturierung der verfassungsgerichtlichen Überprüfung.

Vorschaltgesetz gehört zur zweiten Stufe

Bei dem Vorschaltgesetz handelt es sich laut VerfGH um ein Gesetz auf der zweiten Stufe, da es noch nicht selbst die Landkreise und Gemeinden neu gliedere, sondern im Wesentlichen nur das Leitbild und die Leitlinien für nachfolgende Durchführungsgesetze festlege. In formeller Hinsicht habe der Thüringer Landtag daher im Gesetzgebungsverfahren Art. 91 Abs. 4 ThürVerf beachten müssen, der ihn verpflichte, vor Erlass des Gesetzes zumindest die kommunalen Spitzenverbände anzuhören.

Leitlinien als solche nicht zu beanstanden

Der VerfGH weist zudem darauf hin, dass der Erlass eines Vorschaltgesetzes nicht vorgeschrieben, aber zulässig sei. Gegen die vom Gesetzgeber gewählten Leitlinien, insbesondere die Mindesteinwohnerzahlen und die Stärkung zentralörtlicher Strukturen, bestünden als solche keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Landesverfassung verwehre es dem Gesetzgeber insbesondere nicht, prognostisch auf künftige Einwohnerzahlen abzustellen und dabei von dem Instrument einer Bevölkerungsvorausberechnung Gebrauch zu machen. Auch habe der Gesetzgeber für Landkreise keine Freiwilligkeitsphase vorsehen müssen.

Individuelle Leistungsfähigkeit der Träger kommunaler Selbstverwaltungzu berücksichtigen

Allerdings sei zu beachten, dass das Vorschaltgesetz mit seinen Leitlinien sogenannte Optimierungsgebote enthält, durch die eine möglichst umfassende Neugliederung der verschiedenen kommunalen Ebenen erreicht werden soll, so der VerfGH weiter. Als Optimierungsgebote unterlägen die Leitlinien den Anforderungen des Abwägungsgebots und könnten - wenn gewichtige Gründe dies rechtfertigten - im Wege der Abwägung überwunden werden. Solche gewichtigen Gründe ergäben sich aus dem Gemeinwohlprinzip des Art. 92 Abs. 1 ThürVerf. Diese Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber jedenfalls auf der dritten Stufe, die individuelle Leistungsfähigkeit der Träger kommunaler Selbstverwaltung sowie historische und landsmannschaftliche Zusammenhänge wie auch wirtschaftliche Verflechtungen zu berücksichtigen. Örtlichen Besonderheiten, einschließlich solchen geographischer Natur, sei unter Betrachtung des territorialen status quo der Siedlungsstruktur Rechnung zu tragen. In Hinblick auf die Flächenausdehnung bei der Neugliederung kreisangehöriger Gemeinden sei überdies der Schutz der örtlichen Gemeinschaft nach Art. 91 Abs. 1 ThürVerf zu beachten. Schließlich dürfe oder müsse der Gesetzgeber aus entsprechenden Sachgründen, insbesondere bei einer besonderen Sachverhaltsgestaltung im konkreten Fall, den Rahmen seiner allgemeinen Leitlinien, hier der Mindesteinwohnerzahlen und der Stärkung zentralörtlicher Strukturen, verlassen.

VerfGH Thüringen, Urteil vom 09.06.2017 - VerfGH 61/16

Redaktion beck-aktuell, 9. Juni 2017.

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