In Berlin möglicherweise komplette Wahlwiederholung erforderlich

Der Berliner Verfassungsgerichtshof hält nach einer vorläufigen Einschätzung eine komplette Wiederholung der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus für erforderlich. Das erklärte Gerichtspräsidentin Ludgera Selting am Mittwoch zum Auftakt der mündlichen Verhandlung. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl habe es eine Vielzahl von Wahlfehlern gegeben. Diese seien nach einer vorläufigen Einschätzung mandatsrelevant gewesen.

Herbeiführung verfassungskonformen Zustands

Nach Einschätzung des Gerichts hatten die Fehler also Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Verteilung der Mandate. Nur durch eine komplette Wahlwiederholung könne ein verfassungskonformer Zustand herbeigeführt werden. Das betreffe auch die Wahlen zu den zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen, die ebenfalls am 26.09.2021 stattfanden. Selting unterstrich, dass diese vorläufige Einschätzung des Gerichts noch keine endgültige Entscheidung sei. Es könne sein, dass die Richter im Zuge der laufenden Wahlprüfungsverfahren "an der einen oder anderen Stelle" noch zu anderen Wertungen kommen könnten.

Spätester Termin für Wahlwiederholung im März 2023

Das oberste Berliner Gericht überprüft gut ein Jahr nach der von Pannen überschatteten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus deren Gültigkeit. Die mündliche Verhandlung am heutigen Mittwoch gilt als wichtiger Schritt bei der politischen und juristischen Aufarbeitung der Versäumnisse am 26.09.2021. Wann das Gericht nach der mündlichen Verhandlung sein Urteil über die Gültigkeit der Wahlen spricht, blieb zunächst offen. Nach dem Termin bleiben drei Monate Zeit dafür, also bis Ende des Jahres. Eine mögliche Wahlwiederholung müsste nach dem Urteil innerhalb von 90 Tagen über die Bühne gehen. Spätester Termin wäre also im März 2023.

Lange Schlangen mit teils stundenlangen Wartezeiten

Am 26.09.2021 wurden in Berlin der Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen gewählt. Dazu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Dabei gab es massive Probleme, etwa falsche oder fehlende Stimmzettel, die zeitweise Schließung von Wahllokalen und lange Schlangen davor mit teils stundenlangen Wartezeiten. Zum Teil stimmten Wähler in Wahllokalen sogar auf eilig kopierten Stimmzetteln ab, weil Nachschub ausblieb.

Wahlfreiheit und -gleichheit verletzt

Bei der Wahl seien Grundsätze wie Wahlfreiheit und -gleichheit verletzt worden, so Selting. Betroffen gewesen seien Tausende Wähler, auch wenn deren genaue Zahl im Nachhinein nicht mehr festzustellen sei. Das liege auch an der mitunter lückenhaften Dokumentation der Vorkommnisse.

Bereits beschlossene Gesetze bleiben wirksam

Das Gericht sei vorläufig zu dem Schluss gekommen, dass eine teilweise Wahlwiederholung nicht ausreiche, sagte Selting. Vielmehr müsse in allen 78 Wahlkreisen neu gewählt werden. Die vom 2021 gewählten Parlament beschlossenen Rechtsakte – etwa Gesetze – bleiben im Fall einer Ungültigkeit der Wahl laut Gericht wirksam. Das Abgeordnetenhaus könne in dem Fall weiter seine Arbeit wahrnehmen, bis ein neues Parlament gewählt sei.

Giffey Regierende Bürgermeisterin auf Abruf?

Berlins CDU-Generalsekretär Stefan Evers sagte zu den vorläufigen Wertungen des Gerichts, Berlin müsse sich nun auf komplette Neuwahlen einstellen. "Franziska Giffey ist mit dem heutigen Tag eine Regierende Bürgermeisterin auf Abruf", sagte er mit Blick auf die SPD-Regierungschefin.

35 Einsprüche gegen Wertung der Wahlen

Insgesamt liegen dem Gericht 35 Einsprüche gegen die Wertung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksparlamenten vor, über vier davon soll zunächst verhandelt werden. Dabei geht es um die Beschwerden der Landeswahlleitung, der Innenverwaltung sowie der Parteien AfD und Die Partei.

Auch in Bezug auf Bundestag Wahlwiederholung möglich

Parallel zu dem Berliner Verfahren steht auch im Hinblick auf den Bundestag die Möglichkeit einer Wahlwiederholung im Raum. Darüber befindet – womöglich im Oktober – zunächst der Bundestag selbst auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses. Erwartet wird, dass dann Klagen dagegen beim Bundesverfassungsgericht eingehen und dieses das letzte Wort hat.

Redaktion beck-aktuell, 28. September 2022 (dpa).