Was bedeutet die Einstufung einer Organisation als "Verdachtsfall"?
Wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz von einem Verdachtsfall spricht, dann sieht es "hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte" für verfassungsfeindliche Bestrebungen. In der mündlichen Urteilsbegründung führte das Gericht aus, es gebe ausreichende Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der AfD.
Was ändert sich nun für die Arbeit des Verfassungsschutzes?
Wenn die Urteilsbegründung schriftlich vorliegt und auch ein in gleicher Sache noch anhängiges Eilverfahren formal abgeschlossen ist, darf der Verfassungsschutz die Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten. Das heißt, er kann verdeckte Ermittler einsetzen und Informanten aus dem Dunstkreis der AfD anwerben. Auch Finanzermittlungen und die Überwachung interner Kommunikation – dazu zählen etwa geschlossene Chat-Gruppen – sind möglich. Es gilt aber das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Will der Inlandsgeheimdienst zum Beispiel herausfinden, ob ein AfD-Mitglied auf seinem Konto Geld aus dubiosen Quellen hat, muss eine Kommission über den im Detail begründeten Antrag für den Zugriff auf die Kontodaten entscheiden.
Was gilt für Abgeordnete?
Vertrauliche Gespräche von Abgeordneten mit Wählern und alles, was Mandatsträger in Ausschüssen und Plenarsitzungen sagen, ist tabu. Wenn ein Abgeordneter einen Extremisten in seinem Büro beschäftigen sollte, dürfte der Verfassungsschutz da aber schon hinschauen. Für die praktische Arbeit der Verfassungsschützer ist wichtig, dass sie Daten zu bestimmten AfD-Mitgliedern speichern dürfen, auch in sogenannten Personen-Akten. Das gilt auch für Abgeordnete.
Wie wird sich das Urteil auf die politische Arbeit der AfD auswirken?
Das Misstrauen unter den Parteimitgliedern könnte wachsen, wenn der Geheimdienst Informanten anwerben darf, die aus vertraulichen Runden plaudern könnten. Zudem schadet eine Geheimdienstbeobachtung dem Image. Organisationen, die im Visier des Verfassungsschutzes sind, tauchen in dessen öffentlichen Berichten auf. Organisationen und Bürger schrecke das ab, berichtet die Ex-Vorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch. Sie war, wie andere Linken-Politiker auch, einst vom Verfassungsschutz beobachtet worden. Zudem droht Mitgliederschwund.
Warum könnten Mitglieder austreten?
Der Politikwissenschaftler Jürgen Falter rechnet damit, dass gemäßigte Kräfte, insbesondere Beamte, die Partei verlassen könnten und es dadurch zu einer stärkeren Radikalisierung der AfD kommt. Der langjährige Parteichef Jörg Meuthen, der die AfD im Januar verlassen hat, warnte im Herbst in der "Welt am Sonntag": Eine Verdachtsfall-Einstufung durch den Verfassungsschutz und ein Austritt gemäßigter Parteimitglieder könnte "eine Entwicklung in Gang setzen, bei der die Verdachtsfalleinstufung dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung würde". Zum Jahreswechsel zählte die Partei etwa 30.000 Mitglieder. 2021 waren es noch 32.000, 2020 rund 34.000.
Wieso droht ein Austritt von Beamten?
Beamte, etwa Polizisten, die AfD-Mitglieder sind, könnten unter Druck geraten: Beschäftigte im öffentlichen Dienst hätten sich den Zielen der Verfassung verpflichtet, sagt Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang im ZDF-"Morgenmagazin". Er könne sich vorstellen, dass es Einzelfallprüfungen zur Frage geben werde, ob diese Beschäftigten im öffentlichen Dienst bleiben könnten. Die AfD stehe aus seiner Sicht für die "Verächtlichmachung unseres gesamten Systems".
Wie lange kann so eine Verdachtsfall-Beobachtung andauern?
Der Verdacht kann sich entweder erhärten – dann würde die Partei als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft. Oder er bestätigt sich nicht, etwa wenn völkische Äußerungen und mehr oder weniger direkte Aufrufe zum "Widerstand" von der Parteispitze nicht mehr geduldet würden. Eine konkrete Frist gibt es nicht. Da in der AfD verschiedene Strömungen um Macht und Einfluss ringen, dürfte es ohnehin schwierig sein, zu einem abschließenden Urteil zu gelangen.
Spielt die Haltung der AfD zum russischen Angriff auf die Ukraine eine Rolle?
Nein. Solange jemand nicht im Auftrag eines anderen Staates handelt oder Geld nimmt, gilt er nicht als Einflussakteur. Auch dann nicht, wenn er wie der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider zum Angriff Russlands auf die Ukraine sagt: "In diesem Fall gilt, wie so oft in der Geschichte, dass der Angreifer nicht der eigentliche Aggressor ist." Russlands Präsident Wladimir Putin verteidige "nicht die Interessen der Globalisten", sondern russische Interessen, das sei "sein gutes Recht", meint der Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt.