Eine solche Situation habe es bislang noch nie gegeben, erklärt Verfassungsrechtler Gregory Magarian von der Washington University in St. Louis. Über vieles lasse sich nur spekulieren. Vor allem sei fraglich, ob bis zur nächsten Präsidentenwahl Anfang November 2024 auch nur ein einziges rechtskräftiges Urteil gegen Trump vorliegen werde. Denn es gebe jede Menge Möglichkeiten, das Prozedere mit juristischen Winkelzügen in die Länge zu ziehen. Und Berufungsverfahren seien auch zu erwarten.
Mit den Eventualitäten müsse sich das Land trotzdem schon mal beschäftigen, so Magarian. An diesem Donnerstag sollte der Ex-Präsident in einem Gefängnis in Atlanta vorstellig werden, wegen der neuen Anklage gegen ihn im Bundesstaat Georgia.
Kandidatur (fast) auf jeden Fall möglich
Laut Magarian schreibt die Verfassung nur drei Anforderungen vor, um zur Präsidentschaftswahl antreten zu können: Anwärter müssen gebürtige US-Bürger sein, mindestens 35 Jahre alt und seit mindestens 14 Jahren in den USA leben. Andere Vorgaben gibt es nicht.
Debattiert wurde zwar zwischenzeitlich, dass Trump in einem der Verfahren gegen ihn womöglich wegen des seltenen Straftatbestands der Aufruhr angeklagt und verurteilt werden könnte. Und laut Verfassung sind all jene von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, die sich an einem Aufstand gegen die Regierung beteiligt haben. Allerdings wurde dieser Anklagepunkt bislang nicht gegen Trump erhoben. Selbst wenn das noch folgen sollte, würde Trump ohnehin nicht direkt vom Präsidentenamt ausgeschlossen, erklärt Magarian. "Das geschieht nicht automatisch." Die Frage müsste separat vor Gericht verhandelt werden.
Aber auch wenn Trump in einem Strafverfahren verurteilt würde und in Haft käme, könnte er laut Magarian für das Amt des Präsidenten kandidieren. Mit dem Sozialisten Eugene Debs gab es in der US-Geschichte schon einen Präsidentschaftskandidaten, der verurteilt wurde und die Wahl aus dem Gefängnis heraus bestreiten musste: Das war 1920. Debs ging damals nicht als Sieger aus der Wahl hervor, fuhr aus der Haft heraus aber immerhin fast eine Million Stimmen ein. Auch für Trump wäre es theoretisch möglich, aus dem Gefängnis Wahlkampf zu machen - allerdings wäre das eine logistische Herausforderung, weit mehr noch als vor 100 Jahren.
Regieren aus der Haft "ein unbekanntes Terrain"
Laut Magarian wäre es rechtlich sogar möglich, dass Trump im Zweifel aus einer Haft heraus das Land regieren dürfte. "Es gibt keine Verfassungsvorgabe, die besagt, dass eine Person, die inhaftiert ist, nicht als Präsident der Vereinigten Staaten dienen kann." Der Jurist betont aber: "Das ist unbekanntes Terrain." Problem dabei sei, "dass ein Mann, der in einer Gefängniszelle sitzt, nicht die Dinge tun kann, die ein Präsident zu tun hat".
Insofern könnte in so einem Fall der 25. Zusatzartikel der Verfassung zum Tragen kommen. Der besagt, dass der Vizepräsident und eine Mehrheit wichtiger Kabinettsmitglieder den Präsidenten für unfähig erklären können, sein Amt auszuüben. Wahrscheinlich wäre dies aber nicht, da Trump im Kabinett allein loyale Getreue um sich scharen dürfte.
Trump könnte sich in einem solchen Fall vielmehr an ein Gericht wenden und seine Freilassung beantragen - mit der Begründung, nur so seine Amtspflichten erfüllen zu können. Selbst verfügen könnte er seine Entlassung aus einer Haft laut Rechtsexperten aber nicht.
Verlust des aktiven Wahlrechts bei einer Verurteilung möglich
Hingegen wird es Trump laut Magarian bei einer Verurteilung nicht möglich sein, bei der Wahl selbst abzustimmen. Denn in den meisten US-Bundesstaaten gebe es - in unterschiedlichen Varianten - Regeln, die es verurteilten Straftätern verbieten zu wählen. Das dürfte im Fall einer Verurteilung auch Trump treffen.
Denn vor wenigen Jahren verlegte der Republikaner seinen Hauptwohnsitz in den Bundesstaat Florida und registrierte sich dort auch zur Stimmabgabe bei der Präsidentenwahl 2020. In Florida dürfen verurteilte Verbrecher erst wieder wählen, nachdem sie ihre komplette Strafe verbüßt haben, inklusive Bewährung. Sollte Trump noch vor der Wahl verurteilt werden, wäre kaum denkbar, dass er seine Strafe bis zum Wahltag hinter sich hätte.
Trumps Möglichkeiten der Einflussnahme bei offenen Verfahren
Auf die Frage, was im Falle eines Wahlsiegs mit offenen Verfahren passieren würde, die bis zum Wahltag und Amtsantritt noch nicht geklärt sind, kann Magarian nur spekulieren: Trump könnte versuchen, vor Gericht durchsetzen, die Verfahren bis nach seiner Präsidentschaft zu vertagen. "Es wäre Sache der Gerichte und letztlich sicherlich des Supreme Courts, diese Fragen zu klären", betont Magarian.
Zumindest in den beiden Verfahren gegen Trump auf Bundesebene - zur Dokumentenaffäre und zum versuchten Wahlbetrug - könnte der 77-Jährige aber auch selbst eingreifen. "Er könnte versuchen, seinen Justizminister anzuweisen, den Sonderermittler zu entlassen", sagt Magarian. Ohne den Sonderermittler wären auch dessen Verfahren vom Tisch. Ein Justizministerium unter Trump könnte die Strafverfahren gegen ihn einfach einstellen.
Trump hat schon zuvor bewiesen, dass er vor Einflussversuchen dieser Art nicht zurückschreckt. Er hat auch bereits öffentlich bekundet, er wolle den zuständigen Sonderermittler in den beiden Bundesfällen, Jack Smith, rausschmeißen, falls er wieder Präsident werde.
Könnte sich Trump als Präsident selbst begnadigen?
"Wir wissen es letztlich nicht, weil es noch nie passiert ist", sagt Magarian. "Aber ich sehe keinen Grund, warum er es nicht könnte." Das würde aber lediglich für die beiden Fälle auf Bundesebene gelten - bei einer Verurteilung auf Bundesstaatenebene, in Trumps Fall in New York und Georgia, hätte der jeweilige Gouverneur über eine Begnadigung zu entscheiden. Und selbst im Bund dürfte ein solcher Schritt größere Verwerfungen auslösen, meint Magarian.
Je nach den Mehrheitsverhältnissen im Kongress könnte eine beispiellose Selbstbegnadigung des Präsidenten im Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn anstoßen. Die Folge wäre ein Kräftemessen zwischen Kongress und Präsident - in dem das eigentlich unantastbare Begnadigungsrecht des Präsidenten der eigentlich unantastbaren Impeachment-Befugnis des Kongresses gegenüberstünde. "Aus rein verfassungsrechtlicher Sicht wäre das wohl die heftigste Krise, die man sich vorstellen kann. Und die Gerichte wären gezwungen, sie zu lösen", sagt Magarian. Die Lage wäre "chaotisch".
Eine andere Variante laut Magarian wäre, dass Joe Biden Trump begnadigt, solange er selbst noch Präsident ist. Das wäre dann aus Gründen der Staatsräson, um die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren - womöglich aber auch, um einem möglichen Freispruch Trumps zuvorzukommen, der noch größere Folgen für das Verfassungssystem haben könnte. Ein Präsident kann jemanden auch vor einer möglichen Verurteilung begnadigen.