Nach Boneless-Wings-Urteil: Ein Bürgerrecht auf knochenlose Chicken Wings?

Für Knochensplitter in "knochenlosen" Chicken Wings gibt es kein Schmerzensgeld, meint der Supreme Court in Ohio. Wer chicken finger bestelle, erwarte ja auch keinen Finger, so die Richtermehrheit. Weil die republikanisch ist, schafft das Urteil es in dem Swingstate jetzt sogar in den Wahlkampf.

Deutsche Juristinnen und Juristen mögen sich an die Kirschtaler-Entscheidung des BGH (Urteil vom 17.03.2009 - VI ZR 176/08) erinnert fühlen. Die hat es allerdings, so weit bekannt, hierzulande nie bis in den Wahlkampf geschafft. Ganz anders ein Prozess aus dem amerikanischen Bundesstaat Ohio.

Dort hatte ein Mann 2017 in einem Restaurant knochenlose Chicken Wings ("boneless wings") bestellt. Er zerteilte die Flügel ordentlich in drei Teile. Beim dritten Stück verschluckte er sich. Zwei Tage später in der Notaufnahme wurde in seiner Speiseröhre ein Stück Hühnerknochen gefunden, der dem Mann auch nach der Entfernung andauernde Beschwerden bescherte. Warnhinweise auf die Gefahr von Knochensplittern hatte es nicht gegeben.

In beiden Vorinstanzen hatten die Gerichte schon Zweifel an der rechtlichen Substanz seiner Schadensersatzklage – sie schaffte es daher nicht bis ins Stadium einer Entscheidung durch eine Jury. Die Laienrichterinnen und Richter dürfen nämlich nur dann über die Tatsachen entscheiden, wenn das Gericht die Klage für schlüssig hält. Dem schloss sich auch der Ohio Supreme Court Ende Juli mit knapper Mehrheit an: Vier Republikaner überstimmten drei Demokraten: Der Mann bekommt kein Schmerzensgeld.

Wer chicken finger bestellt, erwartet ja auch keine Finger

Wer auf einer Speisekarte den Begriff "boneless wings" lese, glaube weder, dass das Restaurant das Fehlen von Knochen garantiere, noch, dass es sich um Hühnerflügel handele – schließlich glaube auch niemand, der "chicken finger" bestelle, dass er Finger serviert bekomme, so die Argumentation der Mehrheit. Es handele sich lediglich um eine Zubereitungsart.

Das Sondervotum der Demokraten zeigt für diese Lesart wenig Verständnis. "Utter jabberwocky" kann man dort lesen. Das Urteil lese sich wie eine Geschichte des "Alice im Wunderland"-Autors Lewis Carroll (der das Ungeheuer Jabberwocky in einem Unsinnsgedicht zum Leben erweckt hatte). Die Klage des Mannes sei durchaus schlüssig und damit wäre es sein gutes, ihm von der Verfassung garantiertes Recht, dass eine "jury of his peers", also eine Jury von seinesgleichen, darüber entscheide, ob das Restaurant fahrlässig gehandelt habe. Die republikanische Mehrheit wolle mit ihrer Entscheidung nur verhindern, dass eine Jury einsetze, was dem Urteil fehle: gesunder Menschenverstand ("common sense").

Unternehmerlobby versus einfache Bürger

Das Urteil schlug hohe Wellen. Und nun hat die Rechtsfrage es in den Wahlkampf im Swingstate Ohio geschafft, der mit seinen wechselnden Mehrheiten für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen ausschlaggebend sein kann. Der Berichterstatter der republikanischen Mehrheit sowie eine demokratische Richterin und ein Richter stehen m November im zeitlichen Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen selbst zur Wiederwahl.

Ein demokratischer Senator des Bundesstaats hat sich mittlerweile eingeschaltet und als Reaktion eine Gesetzesinitiative angekündigt. Er sei selbst Wings-Fan – kürzlich sei er noch bei einem All-you-can-eat gewesen, und er erwarte keine Knochen in seinen Flügeln. Er scheint den Fall als wahlkampftauglich auch auf höherer Ebene zu begreifen: Der republikanischen Mehrheit am Gericht gehe es nur um den Schutz von Unternehmen, erklärte der Senator. Die republikanischen Richterinnen und Richter interessierten sich nicht für den einfachen Bürger von Ohio ("regular Ohioan"). Falls es irgendeine Möglichkeit gebe, ein Gesetz zu erlassen, damit knochenlose Wings keine Knochen enthalten dürften, werde er sich dafür einsetzen.

Redaktion beck-aktuell, Michael Dollmann, 2. August 2024.