Unterlassene Hilfeleistung während des Sterbeprozesses

Wer merkt, dass das Opfer eines fremden Tötungsdelikts noch lebt, ist zur Hilfeleistung weiterhin verpflichtet – selbst wenn sich nachher herausstellt, dass die Person nicht mehr zu retten gewesen wäre. Entscheidend ist, wie ein verständiger Mensch die Situation zum Tatzeitpunkt beurteilt hätte, so der Bundesgerichtshof am 01.09.2020.

Hilfe bei Leichenbeseitigung

Ein 19-jähriger Mann wurde von seinem besten Freund gerufen: Dieser hatte zuvor seine Mutter getötet und benötigte nun dringend dessen Beistand. Zum Zeitpunkt seines Eintreffens war die Frau noch nicht tot, aber – wie ein Rechtsmediziner später ausführte – nicht mehr zu retten. Der Heranwachsende gab seinem ersten Impuls, den Notarzt zu rufen, nicht nach. Er hatte Angst, aufgrund seiner Spuren am Tatort selbst der Tötung verdächtigt zu werden. Daher half er seinem Freund, die Leiche zu vergraben und den Tatort zu säubern. Das Landgericht Traunstein sprach ihn vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung und der Strafvereitelung frei. Die Staatsanwaltschaft legte gegen den Freispruch Revision zum BGH ein – mit Erfolg.

Ex-ante-Sicht für unterlassene Hilfeleistung entscheidend

Ob jemand nach § 323c Abs. 1 StGB hätte Hilfe leisten müssen oder nicht, ist laut BGH aus Sicht des Täters zum Tatzeitpunkt zu beurteilen. Als der junge Mann bei seinem Freund eingetroffen sei, sei die Frau noch nicht verstorben gewesen. Die Ansicht des Rechtsmediziners, der Sterbeprozess sei bereits irreversibel gewesen, sei eine Beurteilung im Nachhinein und damit irrelevant. Maßgeblich sei vielmehr, wie ein verständiger Beobachter aufgrund der ihm erkennbaren Umstände die vorgefundene Situation bewertet hätte. Eine unterlassene Hilfeleistung sei daher in diesem Fall gegeben, entschied der 1. Strafsenat.

Strafvereitelung durch Leichenbeseitigung

Wer befürchtet, wegen eventueller Spuren am Tatort sich selbst zum Tatverdächtigen des Tötungsdelikts zu machen, könne den Tatort einfach verlassen, so der BGH. Hier habe der junge Mann aber seinen Freund zusätzlich unterstützt. Das LG hätte daher ermitteln müssen, welche Vorstellungen sich der Heranwachsende gemacht hat, als er bei der Beerdigung und der Tatortsäuberung half. Um in den Genuss von Straffreiheit bei Gefahr der eigenen Strafverfolgung zu kommen (§ 258 Abs. 5 StGB) müsse jede Vereitelungshandlung separat geeignet sein, die eigene Verfolgung zu verhindern. Daher hob der BGH das Urteil des LG samt Feststellungen auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.

BGH, Urteil vom 01.09.2020 - 1 StR 373/19

Redaktion beck-aktuell, 11. November 2020.