Es war seit langen Jahren Tradition, doch die Karlsruher Praxis geriet zunehmend unter Druck: Karlsruher Journalistinnen und Journalisten, die der sog. Justizpressekonferenz (JPK) angehören*, erfuhren bereits am Tag vor wichtigen Urteilen, was das höchste deutsche Gericht entschieden hat.
Die JPK ist ein Zusammenschluss von Rechtsjournalisten mit Sitz in Karlsruhe. Sie ist als Verein organisiert, ihre Mitglieder sind laut Satzung rechtspolitische Journalistinnen und Journalisten, die ständig über die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe sowie über Rechts- und Justizpolitik berichten, neue Mitglieder brauche zwei Bürgen aus dem Kreis der Mitglieder, um beitreten zu dürfen.
Wenn eine wichtige Urteilsverkündung ansteht, können diejenigen unter ihnen, deren Redaktionen in Karlsruhe ansässig sind, sich bereits am Vorabend der Entscheidung die Pressemitteilung des Gerichts in Papierform abholen. Werden Entscheidungen im schriftlichen Verfahren verkündet, erfahren jedenfalls alle sog. Vollmitglieder des Vereins vorab, dass das Bundesverfassungsgericht am folgenden Tag eine Entscheidung zu einem bestimmten Thema verkünden wird. Das Ganze jeweils "mit Sperrfrist", der Auflage also, nicht vor der Verkündung der Urteile durch das Gericht zu berichten.
Wissensvorsprung vor anderen Journalisten - und den Parteien des Rechtsstreits
So hatten die Karlsruher Journalistinnen und Journalisten vor allem bei den wichtigsten Urteilsverkündungen einen enormen zeitlichen Vorsprung gegenüber anderen Journalisten. Denn regulär werden die Pressemitteilungen erst am Tag der Verkündung einer Entscheidung, in aller Regel um zehn Uhr, versandt. Die Karlsruher Mitglieder der JPK wussten hingegen schon am Vorabend, was und warum die Verfassungsrichter entschieden haben. Das ist keine Petitesse, die Entscheidungen aus Karlsruhe sind oft dutzende, manchmal gar Hunderte von Seiten lang und auch für Juristinnen und Juristen nicht einfach nachzuvollziehen. Wer aber die Informationen mehr als zwölf Stunden früher hat, kann praktisch mit der vorab fertigen Berichterstattung starten, sobald das Gericht sein Urteil verkündet hat, während andere Journalistinnen dann erst anfangen können, die Entscheidung zu verstehen.
Die Begründung aus Karlsruhe lautete stets, diese Vorabinformation garantiere eine qualitativ hochwertige Berichterstattung. Die Mitglieder der JPK seien besonders erfahren und langjährig zuverlässig. Tatsächlich sind praktisch alle dort zusammengeschlossenen Journalisten auch Juristen und so weit ersichtlich sind nie vor einer Urteilsverkündung Informationen aus ihrem Kreis an die Öffentlichkeit gelangt, die Sperrfrist wurde immer eingehalten. Doch der Tagesspiegel-Journalist und Jurist Jost Müller-Neuhof, der die Praxis im Jahr 2020 als Erster öffentlich aufs Korn nahm, erhielt bald viel Zuspruch aus Journalistenkreisen. Der Deutsche Journalistenverband kritisierte die Vorabinformationen, der Deutsche Presserat forderte das BVerfG auf, diese einzustellen.
Entgeistert zeigten sich aber auch Politikerinnen, Anwälte und die Zivilgesellschaft: Schließlich erfuhren die ausgesuchten Journalisten nicht nur vor der Konkurrenz, sondern auch vor den Parteien des Rechtsstreits, wie dieser ausgehen wird. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags bezweifelte die Rechtmäßigkeit der Vorabinformationen.
Erst klagte die AfD, nun forderten "Bild" und "Tagesspiegel" Unterlassung
Die AfD, die vor dem BVerfG bekanntlich häufig als Klägerin auftritt, klagte vor dem VG Karlsruhe gegen das Vorabinformationsverfahren mit dem Argument, sie sei gegenüber den Journalistinnen und Journalisten im Nachteil, wenn diese vor der Partei erführen, wie ihr Verfahren ausgegangen ist, ihre Fragen entsprechend detailliert vorbereiten könnten usw. Die Rechten verloren aber schon mangels Klagebefugnis, weil sie nicht im Wettbewerb zu den Pressevertretern stehe und das VG auch keine Verzerrung des politischen Wettbewerbs erkennen konnte.
Vor einer Klage des "Tagesspiegel" sowie der "Bild"-Zeitung hatte das BVerfG offenbar mehr Respekt: Nach Unterlassungsforderungen der Medienhäuser setzte das höchste deutsche Gericht die Vorabinformationspraxis Ende März 2023 vorläufig aus. Man überdenke die hauseigenen Kommunikationsstrukturen, hieß es, zunächst fürs zweite und dritte Quartal 2023. Nun ging es noch schneller, offenbar sind Deutschlands höchste Richterinnen und Richter in eigener Sache zu einem Urteil gekommen: "Anstelle dieser Vorabinformationspraxis wird das Bundesverfassungsgericht die Veröffentlichung ausgewählter Entscheidungen künftig in einem auf der Website des Bundesverfassungsgerichts abrufbaren Wochenausblick ankündigen." Losgehen soll das sogar noch vor Ablauf des dritten Quartals. Ab dem 1. September 2023 haben dann alle Journalistinnen und Journalisten dieselben Möglichkeiten und Chancen, sich auf die Karlsruher Entscheidungen vorzubereiten.
*Transparenzhinweis der Redaktion: Auch die Verfasserin dieses Artikels ist Vollmitglied der JPK, allerdings nicht mit Sitz in Karlsruhe.