Tötungsvorsatz bei unbekannter Wechselwirkung

Liegt der bedingte Tötungsvorsatz nicht wegen einer konkreten Lebensgefährlichkeit der Tatausführung nahe, erfordert dies regelmäßig eine Gesamtwürdigung aller Umstände. Laut Bundesgerichtshof kann bei Medikamentengaben an Kinder nicht ohne Weiteres auf einen Tötungsvorsatz geschlossen werden, wenn mögliche Wechselwirkungen noch nicht erforscht und deshalb nicht beherrschbar sind.

Beruhigungs- und Schlafmittel verabreicht

Eine Mutter von drei Kindern – von Beruf Krankenschwester – verabreichte ihrer vierjährigen Tochter anlässlich zweier Krankenhausaufenthalte heimlich und ohne medizinische Indikation die Beruhigungsmittel Midazolam und Diazepam sowie das Schlafmittel Zopiclon. Die Gabe des für Kinder nicht zugelassenen Schlafmittels Zopiclon erfolgte in Kombination mit dem Beruhigungsmittel in einer potenziell lebensgefährlichen Dosis. Tatsächlich bestand jedoch keine Lebensgefahr und die Wirkstoffe wurden folgenlos vom Körper abgebaut. Das Landgericht Hamburg verurteilte die Frau unter anderem wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten. Die Revision der Angeklagten war im Hinblick auf den angenommenen Mordversuch erfolgreich.

Bedingter Tötungsvorsatz ist klärungsbedürftig

Das Landgericht hat laut BGH zu Unrecht einen Tötungsvorsatz angenommen, was zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes führe. Liege die Annahme bedingten Vorsatzes nicht wegen einer hohen und zudem anschaulich konkreten Lebensgefährlichkeit der Tatausführung nahe, ohne dass der Täter tatsachenbasiert auf einen glücklichen Ausgang vertrauen könne, bedürfe es regelmäßig einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände. Die vom LG festgestellten, gegen einen solchen Willen sprechenden Umstände habe es jedoch nicht in die Abwägung eingestellt, kritisierte der 5. Strafsenat. Die Angeklagte habe sich bis zur Tat liebevoll und fürsorglich um ihre Kinder gekümmert. Wegen zweier Urin- und Blutproben des Mädchens sei – für sie als Krankenschwester ersichtlich – mit einer baldigen Tatentdeckung zu rechnen gewesen. Anders als bei gemeingefährlichen Handlungen oder Gewalttaten, bei denen aus der konkreten Lebensgefährlichkeit regelmäßig auf den Tötungsvorsatz geschlossen werden könne, treffe dies auf die Gabe von Medikamenten, deren Auswirkungen auf Kinder auch in ihrer Wechselwirkung untereinander gerade noch nicht erforscht und deshalb nicht beherrschbar seien, nicht in gleicher Weise zu. Der BGH verwies die Sache daher zur Klärung an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurück.

BGH, Beschluss vom 10.05.2022 - 5 StR 28/22

Redaktion beck-aktuell, 15. Juni 2022.