Tödliche Attacke auf Augsburger Weihnachtsmarkt: BVerfG hebt Untersuchungshaft gegen 17-Jährigen auf

Das Bundesverfassungsgericht hat die Anordnung von Untersuchungshaft gegen einen 17-Jährigen, der als Teil einer Gruppe im Dezember 2019 an der tödlichen Attacke auf einen Besucher des Augsburger Weihnachtsmarktes beteiligt gewesen sein soll, aufgehoben. Es rügt, dass der dringende Tatverdacht unzureichend begründet worden sei. Eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers fehle. Das Oberlandesgericht München muss nun erneut entscheiden (Beschluss vom 09.03.2020, Az.: 2 BvR 103/20, BeckRS 2020, 3196).

Haftbefehl wegen Beihilfe zum Totschlag und gefährlicher Körperverletzung

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Augsburg gegen den 17-jährigen Beschwerdeführer Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und gefährlicher Körperverletzung. Das AG hielt den Beschwerdeführer für dringend verdächtig, am 06.12.2019 als Teil einer Gruppe von sieben Personen in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden beiden Geschädigten getroffen zu sein. Die Beschuldigten hätten sich gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen "Oberhausen 54" gegeben. Nach einem Wortwechsel hätten sie einen der Geschädigten umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, ihn entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen. Dies habe jedem ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die anderen angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.

AG stützte sich auf Videoaufzeichnungen

Während der Geschädigte auf einen vor ihm stehenden, ihn bedrängenden Beschuldigten konzentriert gewesen sei und diesen von sich gestoßen habe, habe ihm ein seitlich von ihm stehender Mitbeschuldigter – tödliche Verletzungen billigend in Kauf nehmend – einen gezielten und derart wuchtigen Schlag mit der Faust gegen die linke Gesichtshälfte versetzt, dass der Kopf in solch hoher Geschwindigkeit nach rechts geschnellt sei, dass dessen Hirngrundschlagader eingerissen sei. Hierbei sei es zu einer schlagartigen massiven Blutansammlung im Gehirn des Geschädigten gekommen, weshalb dieser – wie alle Beschuldigten billigend in Kauf genommen hätten – augenblicklich verstorben sei. Der wenige Meter entfernt stehende zweite Geschädigte sei, als er dies gesehen habe, herbeigeeilt um zu helfen. Daraufhin hätten alle sieben Beschuldigten entschieden, nunmehr ihn zu attackieren. Sie hätten ihm in der Folge zahlreiche Schläge gegen den Gesichtsbereich und diverse Schläge und Tritte gegen den Körper versetzt. Alle hätten dabei die Handlungen der anderen gebilligt. Der Geschädigte habe einen Jochbeinbruch, eine Platzwunde am linken Auge, eine Prellung sowie starke Schmerzen erlitten und einer stationären Behandlung bedurft. Das Gericht stützte seine Bewertung des Verhaltens des Beschwerdeführers vor allem auf Erkenntnisse aus Videoaufzeichnungen.

LG hob Haftbefehl aus – Kein Totschlagsvorsatz

Auf die Haftbeschwerde des Beschwerdeführers hob das Landgericht Augsburg den Haftbefehl auf. Es verneinte einen dringenden Tatverdacht. Ein doppelter Gehilfenvorsatz des Beschwerdeführers zu einem Totschlag oder einer Köperverletzung mit Todesfolge liege nicht vor. Bereits eine Beihilfehandlung sei fraglich, da der Beschwerdeführer vom Geschädigten weggestoßen worden und gerade zum Stehen gekommen sei, als der tödliche Schlag des Mitbeschuldigten erfolgt sei. Der Beschwerdeführer sei demnach zu diesem Zeitpunkt zwar zugegen gewesen, von einer aktiven Handlung könne jedoch keine Rede sein. Ob die bloße Präsenz eine objektive Beihilfehandlung darstelle, könne dahingestellt bleiben, da jedenfalls kein dringender Tatverdacht hinsichtlich der subjektiven Tatseite bestehe. Der spontane Schlag des Beschuldigten sei sofort abgeschlossen gewesen, sodass die weiteren Beschuldigten keine Verhaltensweisen hätten zeigen können, die Rückschlüsse auf eine subjektive Tatseite ermöglicht hätten. Die Zugehörigkeit der Beschuldigten zu einer gewaltbereiten Gruppe "Oberhausen 54" sei nicht durch belastbare Fakten belegt. Auch während der Auseinandersetzung mit dem zweiten Geschädigten habe sich der Beschwerdeführer zunächst in gewisser Distanz befunden und sich dann abgewandt, sodass auch insoweit kein dringender Tatverdacht für ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers bestehe.

OLG ordnete Untersuchungshaft wieder an – Sachverhaltszergliederung moniert

Auf die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht die Beschlüsse des LG auf und ordnete die Untersuchungshaft wieder an. Es bestehe hinsichtlich aller sechs Beschuldigter der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung. Soweit das LG den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten zerlege und auf dieser Grundlage einen dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag verneine, berücksichtige es in prozessualer Hinsicht nicht ausreichend den vorläufigen Charakter der Prüfung des dringenden Tatverdachts und in tatsächlicher Hinsicht nicht hinlänglich das besondere gruppendynamische Gepräge des Tatgeschehens. Sowohl aus den Zeugenaussagen als auch aus den Videoaufzeichnungen erschließe sich mit ausreichender Deutlichkeit, dass die Beschuldigten unmittelbar vor der Tat im öffentlichen Raum in einer provozierenden und bedrohlich wirkenden Weise als Gruppe aufgetreten seien.

OLG betont Gruppendynamik des Geschehens

Dieses gruppendynamische Verhalten setze sich im eigentlichen Tat- und Nachtatgeschehen fort, indem die Beschuldigten das später getötete Opfer zunächst in ihre Mitte nähmen und bedrängten, sich nach dem vom Mitbeschuldigten geführten Faustschlag gemeinsam von dem gestürzten Opfer entfernten und Menschen, die dem am Boden liegenden schwer verletzten Geschädigten zur Hilfe eilen wollten, abdrängten, den zweiten Geschädigten angriffen und sich gemeinsam vom Tatort entfernten. Bei einer Gesamtbetrachtung werde das vom LG vorgenommene Zerlegen des Geschehens in zahlreiche Einzelakte individueller Verdächtiger dem Tatbild nicht gerecht. Die von den Beschuldigten ausgehende Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit, die sich in den verfahrensgegenständlichen Straftaten realisiert habe, könne nicht allein durch eine isolierte Betrachtung und Würdigung individueller Handlungen erfasst werden, sondern bedürfe außerdem einer sorgfältigen Berücksichtigung der Besonderheiten des Auftretens als Gruppe. Dagegen legte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde ein und rügte unter anderem eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts.

BVerfG: Freiheitsgrundrecht verletzt

Das BVerfG hat den Beschluss zur Anordnung der Untersuchungshaft aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen. Der Beschluss verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG. Vor einer Verurteilung sei der Eingriff in die Freiheit eines Beschuldigten nur hinzunehmen, wenn ein dringender, auf konkrete Anhaltspunkte gestützter Tatverdacht begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen weckt und der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf eine vollständige Aufklärung der Tat und eine rasche Bestrafung des Täters nicht anders als durch Untersuchungshaft gesichert werden kann. Der erforderliche dringende Tatverdacht liege deshalb nur vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens sei, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit beträfen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspreche.

Dringender Tatverdacht ungenügend begründet

Das BVerfG beanstandet, dass der OLG-Beschluss den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genüge. Den Ausführungen zum dringenden Tatverdacht fehle es jedenfalls an der erforderlichen Begründungstiefe. Ungeachtet der Frage, ob das OLG einen verfassungsrechtlich vertretbaren Maßstab an das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts angelegt habe, lasse es eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers vermissen. Wie das OLG im Ansatz zutreffend ausführe, sei die physische Präsenz an einem Tatort für sich genommen nicht strafbar. Aus dem Beschluss des OLG gehe demgegenüber nicht hervor, woraus sich ein konkreter Tatbeitrag oder zumindest ein Vorsatz des Beschwerdeführers bezüglich des sofort tödlichen Schlags gegen den Kopf des Geschädigten ergeben sollte. Das OLG differenziere nicht zwischen den einzelnen Beschuldigten und den beiden ihnen vorgeworfenen Taten.

Konkrete Tatbeteiligung nicht dargelegt

Wenn das OLG im Rahmen einer "Gesamtbetrachtung" sowohl eine gleichwertige Beteiligung der sechs Beschuldigten an dem von dem Haupttäter ausgeführten Schlag als auch eine von allen Beschuldigten mittäterschaftlich begangene Körperverletzung annehme, hätte es dies konkret anhand des Inhalts der Videoaufzeichnungen und der Zeugenaussagen begründen müssen. Es genüge insoweit nicht, wenn es seine Sachverhaltswürdigung pauschal – und daher nicht näher nachvollziehbar – damit begründe, dass sie sich mit "ausreichender Deutlichkeit" aus den vorliegenden Beweismitteln ergebe. Auch die abstrakten Ausführungen des OLG zur objektiven Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse enthielten keinerlei Feststellungen insbesondere zur subjektiven Tatseite, sondern ließen die hierfür wesentlichen Gesichtspunkte vielmehr ausdrücklich offen. Dass das LG – wie das OLG kritisiere – den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten "zerlegt" habe, erscheine daher nicht verfehlt, sondern vielmehr einfach- wie verfassungsrechtlich geboten. Eine strafrechtliche Verfolgung setze die individuelle Vorwerfbarkeit eines sozialethischen Fehlverhaltens, also eine individuelle Schuld voraus. Das OLG wäre somit gehalten gewesen, anstelle einer rein gruppenbezogenen "Gesamtbetrachtung" eine konkrete Tatbeteiligung jedes einzelnen Beschuldigten, insbesondere des Beschwerdeführers, darzulegen und zu begründen.

Ausführliche LG-Würdigung erhöhte Begründungsanforderungen

Besondere Anforderungen an die Begründungstiefe ergeben sich laut BVerfG zudem aus dem Umstand, dass sich das LG zu einer eingehenden Würdigung der vorliegenden Beweismittel und einer entsprechend detaillierten Schilderung der Tatabläufe in der Lage gesehen habe. Es habe anhand des bisherigen Ergebnisses der Ermittlungen herausgearbeitet, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des tödlichen Schlags vom Geschädigten geschubst wurde, nachdem er bereits einen Ausweichschritt nach hinten gegangen war, dass also von einer aktiven Handlung des Beschwerdeführers keine Rede sein kann. Zum Zeitpunkt der Verletzung des zweiten Geschädigten sei er danach bereits im Weitergehen begriffen gewesen und habe die Auseinandersetzung lediglich beobachtet. Das LG habe dementsprechend auch keine Verhaltensweisen erkennen können, die Rückschlüsse auf eine subjektive Tatseite ermöglichten. Vor diesem Hintergrund hätte sich auch das OLG zu einer eingehenden Würdigung der vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte veranlasst sehen müssen, um zu begründen, dass die Annahmen des LG unzutreffend seien.

Vorliegen eines Haftgrundes ebenfalls nicht ausreichend begründet

Zudem fehle es dem Beschluss des OLG an der hinreichend begründeten Darlegung eines Haftgrundes. Er weise jedenfalls keine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit naheliegenden Umständen auf, die einer Flucht- und Verdunkelungsgefahr entgegenstehen könnten.

BVerfG, Beschluss vom 09.03.2020 - 2 BvR 103/20

Redaktion beck-aktuell, 11. März 2020.